Em’s Story – Kapitel 1

von Em's Story

Fotomontage: Klenger - Fotolia / HKW

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Klenger – Fotolia / HKW

Kapitel 1

„Miss Whitney, der Herr Direktor empfängt sie jetzt. Wenn sie mir bitte folgen würden.“ Die Sekretärin im strengen mausgrauen Kostüm und weißer Bluse stand vor der lederbezogenen cognacfarbenen Sitzgarnitur in der Wartenische der Lobby. Emily sprang auf und folgte der Frau einen langen Flur entlang. Die Wände waren in dezentem Pastellgelb gehalten, das der nüchternen Büroetage einen vornehmen Anstrich verlieh. Das Schwarz-Weiß der Modefotografien an beiden Wandseiten wirkte vor diesem Hintergrund besonders ausdrucksstark. Die Motive zeigten wunderschöne Frauen, die allesamt die teure Designstrickmode der Marke Woolcourt trugen. Emily warf schnelle Blicke von links nach rechts, um möglichst viele Bilder sehen zu können, während sie hinter der Vorzimmerdame des Direktors herging. Vor der vorletzten Tür auf der linken Flurseite blieb die Sekretärin stehen. Sie bedeutete Emily, einzutreten. „Nehmen sie bitte noch einen kurzen Moment Platz, ich sage Herrn Direktor, dass sie da sind“, erklärte sie, während sie mit der Hand auf zwei Stühle zeigte, die an der Wand gleich neben dem Schreibtisch zusammen mit einem Teewagen standen, auf dem ein Stapel Modemagazine lag.

Emily strich den Rock ihres marineblauen Kostüms glatt, das sie sonst zum Kirchgang am Sonntag trug. Sie setzte sich, schaute sich im Vorzimmer von Direktor Blines um. Obgleich auch hier an den Wänden Modeaufnahmen aufgehängt worden waren und auf dem Fensterbrett zwei üppige Topfpflanzen standen, wirkte das Büro ebenso streng wie die Frau, die darin arbeitete. Grau schien die bevorzugte Farbe der Sekretärin zu sein. Der Schreibtisch, der Stuhl dahinter, die Regalschränke ringsum, die gepolsterten Besucherstühle, sogar das Holz der kleinen Anrichte in der Ecke war in grauer Farbe lackiert worden. Lediglich das Tablett auf dieser Anrichte glänzte in weiß, genauso wie das darauf bereitgestellte weiße Kaffeegeschirr, zwei Gedecke sowie ein weißer Teller mit hübsch arrangiertem Gebäck auf weißem Spitzenpapier, unterbrachen das dominierende Grau. Und natürlich die beiden Topfpflanzen, deren grüne, offenbar regelmäßig von Staub befreite Blätter mit tomatenroten Übertöpfen konkurrierten, brachten Farbe in den Raum. Emilys Blick streifte den Fußboden. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Wer kam denn nur auf die Idee, die wunderschönen alten Holzdielen grau zu streichen? Ein sehr helles, kaum von weiß zu unterscheidendes Grau, aber dennoch grau.
Die Arbeitsplatte des Schreibtisches zeugte von der Akkuratesse seiner Benutzerin. Neben dem klobigen schwarzen Telefonapparat, der mehr Knöpfe besaß als der wesentlich schlichtere Apparat in ihrem Elternhaus, der in Emilys Augen die wichtige Stellung der Sekretärin bei Woolcourt unterstrich, lagen Papiere zu mehreren akkuraten Stapeln aufgeschichtet. Stifte, Stempel, eine Schere, Klebeband waren in silberfarbenen Gefäßen angeordnet worden. Silber, der elegante Bruder des Grau, kam es Emily in den Sinn. In der Mitte des Schreibtischs prangte eine imposante Schreibmaschine, eine graue IBM Executive. Sie sah nagelneu aus und sauber, wie alles in diesem Zimmer. Der eingespannte Papierbogen zeugte von der Arbeit, bei der die Sekretärin unterbrochen worden war, um Emily in Empfang zu nehmen und ihren bevorstehenden Besuch bei Herrn Direktor Blines vorzubereiten.

Es handelte sich selbstverständlich nicht wirklich um einen Besuch. Emily hatte sich bei Woolcourt & Sons Inc. für eine Stelle als Bürogehilfin beworben. Sie würde in wenigen Monaten die High School abschließen, danach wollte sie Geld verdienen. Der Besuch eines Colleges kam nicht infrage. Den lehnten ihre Eltern ab, und sie hatte nicht vor, sie zu bitten nochmals darüber nachzudenken und ihrer ältesten Tochter zu erlauben, zu studieren. Stattdessen würde sie Geld verdienen und dann so bald als möglich von zu Hause wegziehen.
Ihr Plan stand fest. Wenn sie bei dem Vorstellungsgespräch einen guten Eindruck hinterließe, käme sie der Verwirklichung eben jenes für sie inzwischen immens bedeutenden Plans, auf eigenen Füßen zu stehen, einen großen Schritt näher. Sollte es mit der Stelle als Bürogehilfin nicht klappen, bekam sie vielleicht wenigstens die Chance ihre Fähigkeiten als unbezahlte Aushilfe zu beweisen, um es später doch noch zu einer Festanstellung zu schaffen. Dafür würde sie jeden Nachmittag gleich nach der Schule mit der Bahn aus dem Vorort, in dem die Familie Whitney wohnte, in die Stadt fahren.

Ein Schauer der Vorfreude lief ihr über den Rücken. Sie malte sich aus, im Coopers Tower, diesem eleganten Bürogebäude, ein- und auszugehen, in dem Woolcourt & Sons auf mehreren Etagen residierte. „Ich werde mich mit Mode beschäftigen, endlich. Selbst wenn das heißt, dass ich lediglich Briefe in Kuverts stecken und Briefmarken aufkleben darf oder Botengänge durch den Coopers Tower erledige. Ich werde auf Wolken durch dieses fantastisch schöne Gebäude schweben.“

„Miss Whitney.“ Die Sekretärin unterbrach Emilys Gedankenspaziergänge. „Miss Whitney“, wiederholte sie mit leichtem Stirnrunzeln, „der Herr Direktor lässt bitten“. Emily erhob sich rasch, strich ihren Rock erneut glatt und ging hinter der Sekretärin her, die an der Tür zum Zimmer ihres Chefs stehen blieb, Emily die Tür aufhielt und sagte: „Herr Direktor, Miss Whitney ist nun hier.“ Emily spürte eine Hand auf ihrer Schulter, die Sekretärin schob sie sachte in den weitläufigen Raum und schloss die Tür hinter der jungen Bewerberin. Unsicher stand sie einige Meter vom Schreibtisch entfernt, an dem ein grauhaariger, offenbar sehr groß gewachsener Herr saß, den Kopf über ein Blatt Papier gesenkt. Jetzt schaute er auf, nahm seine Brille ab, legte sie mitsamt dem Papier auf die Tischplatte, lächelte. „Kommen sie herein, Miss Whitney, nehmen sie Platz.“ Er zeigte auf die beiden braunen Lederstühle mit gerader, hoher Rückenlehne vor dem Schreibtisch.

Last modified: 30. November 2016

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