Glücklicherweise wirkt mein Mantra „Fang endlich an, Heide!“ (fast) immer. So auch dieses Mal. Eine neue Kurzgeschichte wartet darauf, aufs Papier (eigentlich: ins Notebook) gebracht zu werden.
Ich gehe in die Küche, koche einen Espresso, trage das Tässchen an den Schreibtisch, setze mich, schalte das Notebook ein, rufe ein neues, noch blitzblankes weißes Dokument auf, nehme einen Schluck Kaffee, warte, bis der Cursor auf dem Bildschirm signalisiert: „Alles klar, du kannst loslegen“.
Wenn es denn so einfach wäre. Erst einmal muss ich meine gesammelten Notizen durchsehen, schließlich will ich nicht bereits den Anfang der Geschichte verhauen. Diese Notizen breiten sich jetzt in großer Zahl und in Form einzelner Blätter, manche auch nur kleine Zettelchen, auf dem Schreibtisch aus. Was hatte ich mir für den Einstieg notiert?
An dieser Stelle komme ich immer ins Grübeln. Ich sollte strukturiert in ein Heft, ein Notizbuch oder auf einen Block schreiben, was mir zu einer Geschichte einfällt. Nun ist es ja nicht so, dass ich kein Notizbuch besitze. Ganz im Gegenteil. Sie stapeln sich im Regal in verschiedenen Größen, diversen Farben, uni und bunt gemustert, aus Leder, Leinen, abwaschbarem Kunststoff, gekauft in vornehmen Papeterien, in Kaufhäusern oder aus dem Sonderangebotssortiment von Discountern. Ich habe immer eines in Griffnähe, selbst in meinen kleinen Handtaschen steckt ein Büchlein mit Blankoseiten, kaum größer als eine Kreditkarte. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, ich trage auch stets einen funktionsfähigen Schreibstift mit mir herum. Aber dennoch notiere ich meine Gedanken, meine Einfälle zu einer neuen Story auf Zettel, herausgetrennt aus den Notizheften. Ich fixiere ein paar Worte, einen Satz, beschreibe oder benenne eine Figur, einen Handlungsort, halte zu klärende Fragen und Details fest. Dann reiße ich das Blatt aus dem Heft und stecke es in die Tasche neben das kleine Lippenstiftetui, weil ich den Lippenstift zu Hause sowieso rausnehmen und dabei den Zettel finden werde.
Clever? Praktisch? Logisch? Wohl eher sonderbar.
Egal. Jetzt sitze ich am Schreibtisch, bereit, mich durch meine Aufzeichnungen zu lesen, ihnen Struktur zu geben, in die Erzählung einzutauchen. Meine Zettelwirtschaft hat Vor- und Nachteile. Ideal wäre es natürlich, wenn ich meine Notizen in logischer Reihenfolge geordnet vor mir ausbreiten könnte. Da ich sie jedoch in einer Kladde sammle, während die Idee in meinem Kopf reift, Zettel für Zettel einfach in dieser Kladde ablege, sind sie erst einmal ein ungeordneter Haufen auf dem Tisch. Der Vorteil dieser chaotischen Sammlung: Ich schaue mir jedes Blatt in aller Ruhe an, bewerte das Geschriebene als wichtig oder „kann erst mal zur Seite, Verwendung ungewiss“. Außerdem ergänze ich die Stichworte, reihe Worte zu kompletten Sätzen aneinander, vergebe Rangfolgen, male Fragezeichen, wenn mir etwas unlogisch erscheint und Ausrufezeichen, wenn ein Detail mir nicht gefällt.
Der Cursor blinkt weiter, Worte stehen nach wie vor keine auf der Seite. Ich beschließe, die Geschichte so beginnen zu lassen, wie ich es auf einer Seite des Notizbuchs mit dem pinkfarbenen Einband mit rotem Fineliner vor Wochen aufgeschrieben hatte: „Einstieg: Inga steht vor ihrem Auto (gelber Fiat 500), Auto ist vollgepackt, sie hat nur ihre persönlichen Dinge mitgenommen, was nicht in Kisten passt in der Garage abgestellt, ihre Freundin Bix (steht für Birgit Alexandra) wird ihr beim Abtransport helfen. Ein letzter Blick nach oben auf die Fenster der dritten Etage. Dort wohnte sie fünf Jahre mit ihrem jetzt schon Fast-Ex. Inga steigt in ihr Auto, öffnet das Faltdach, fährt schnell los.“
Inga wird mich ab sofort in Gedanken begleiten, bis das letzte Wort der Short Story in die Tasten getippt, die letzte Änderung vorgenommen, der letzte Punkt gesetzt sein wird. In dem Moment, da ich die ersten Worte schreibe, verschmelze ich – in diesem Fall mit Inga, der Hauptfigur. Sie ist jetzt mein siamesischer Zwilling, solange wir zusammen durch die Geschichte wandern. Anders als viele Autoren arbeite ich allerdings nicht nach einem festgelegten Plot. Ich lasse mich treiben, gebe Inga Raum, ihren Weg zu gehen. Meine Notizen sind Gehhilfen, Impulsgeber, doch kein starres Gerüst. Das heißt, ich weiß am Anfang der Geschichte nicht, wie sie enden wird.
So sonderbar wie die Aufbewahrung der Notizzettel beim Lippenstiftetui ist auch meine Art diese Gedankenschnipsel abzuarbeiten. Das Papier mit der roten Finelinertinte für den Beginn der Geschichte lege ich nicht etwa zurück in die Kladde oder – was logisch erscheint – verstaue ihn in einer Ablagehülle. Es ist zum Glück nie schief gegangen, kein Ideensplitter ging verloren, bevor der oft in Eile hingeworfene Einfall in einem ersten Satzentwurf auf dem Computerbildschirm steht. Dann drücke ich die Speichern-Taste, nehme das Papier, streiche den gesamten Text durch, zerreiße den Zettel und werfe die Einzelteile in den Papierkorb unterm Tisch.
Warum tue ich das? Weil es mir das Gefühl gibt, einen Schritt getan zu haben, die Geschichte voranzutreiben. Meine Zettelflut gibt mir einerseits das Polster an Details, ohne die ich keine Erzählung beginnen kann. Doch es sind variable Inhalte. Orte, Personen, Beziehungen der Protagonisten können sich jederzeit ändern. Ich kann sie ausbauen oder verwerfen. Sobald ich mit meinen gesammelten Notizblättchen vor dem Laptop sitze, nimmt die Geschichte, nehmen die Charaktere, nimmt die Hauptperson meine Gedanken in Besitz.
Heute ist es Inga, mit der ich mich schon befreundet habe, als der erste Zettel im Papierkorb landet. Ich sitze neben ihr im Fiat 500. Wir fahren los, in eine Zukunft ohne den Ex, flitzen durch die Stadt, zu Bix, die uns für ein paar Tage bei sich wohnen lässt, bis wir uns klar darüber sein werden, wie es weitergehen soll.
Der Einstieg ist gut gelaufen. Ich bin drin in der Geschichte. Jetzt einen weiteren Espresso brauen und dann schnell zurück zu Inga. Welche Notizbuchseite ist als Nächste an der Reihe?
Meine aktuelle Schreibstimmung: Es geht mir gut, vielen Dank!
Der Lippenstift: „Dance with me“ von Mac
Last modified: 23. März 2017