Sie strahlten sie an, schienen um Hilfe zu bitten. Es gab nicht den geringsten Zweifel: Alle wollten von ihr gerettet und in Sicherheit gebracht werden.
Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Sie knöpfte den Mantel auf, ihr war plötzlich heiß. Ihre Finger zitterten kaum merklich, hastig zog sie die Hand zurück. Fast hätte sie zugegriffen. Doch sie wusste, es würde Ärger geben, wenn sie einen von ihnen befreite. Dabei würde sie am liebsten alle aus der Gefangenschaft retten.
Pam schaute ihre Lieblinge an. Sie ließ ihren Blick über einen nach dem anderen gleiten. Wie schön, nein, wie außergewöhnlich und makellos sie aussahen. Sie waren so begehrenswert. Pam überlegte: Wenn sie heute ein paar von ihnen, oder wenigstens einen, nur einen Einzigen mitnehmen und in ihre Obhut bringen könnte, blieben noch vier Tage. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es blieben ganz genau vier Tage, fünf Stunden und dreizehn Minuten, bis sie sich den unerbittlichen Fragen von Dr. Quentin stellen müsste.
Was wäre, wenn sie einen oder mehrere einsammeln und einfach nach Hause mitnahm, um sie in Sicherheit zu bringen? Sie würde es clever anstellen, blitzschnell handeln und ruckzuck verschwinden, bevor es irgendjemandem auffiele. Wenn sie nicht zu viele in die Freiheit entführte, würde es zumindest nicht sofort auffallen. Heute Abend, vielleicht erst morgen früh, wenn der Putztrupp zum Säubern der Räume kam, würden sie sich natürlich wundern. Eine Spur zu ihr wäre dann aber kaum zu finden. Und sie würde eine Zeit lang warten, bis sie wieder hierher käme. In der Zwischenzeit gäbe es ohnehin an allen möglichen Orten noch viel für sie zu tun. Unzählige potenzielle Schützlinge warteten darauf, dass man sie abholte und in ein neues Zuhause brachte, dass Pam sie aus einer Umgebung befreite, in der sie lieblos behandelt und als unwichtige Masse angesehen wurden.
„Nein, das werde ich niemals zulassen. Ganz egal, was Dr. Quentin sagt. Er will mich bekehren, mir einreden, es sei nicht in Ordnung, mit meinem Kopf sei etwas nicht in Ordnung, weil mir so viel daran liegt, zu retten, wer mir am Herzen liegt“, überlegte Pam mit einem grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht. Was wusste Dr. Quälgeist, wie sie ihn insgeheim nannte, schon über ihre Kinder. Er war ein Mann, er konnte nicht verstehen, wie wichtig ihre Rettungsaktionen waren. Sie hatte es mit weiblichen Ärzten versucht. Doch da war es noch schlimmer gewesen. Anstatt die Gründe für Pams Taten zu verstehen, wollten sie sie als geisteskrank abstempeln. Aber so ließ Pamela Cooper sich von absolut niemandem behandeln. Sie hatte sich vor vielen Jahren dem Befreiungskampf verschrieben. Schon als kleines Mädchen war ihr bewusst geworden, wie sie es liebte, ihre kleinen Schätze um sich zu scharen, sie zu pflegen, dafür zu sorgen, dass sie sich wohlfühlten. Pam ließ sie fühlen, wie schön und besonders sie für sie waren. Einige von ihnen trug sie immer bei sich. Sie verließ nie das Haus, ohne vorher sorgfältig auszuwählen, wer sie begleiten durfte. Eigentlich wollte sie niemanden benachteiligen. Doch manch ein Liebling entpuppte sich als Sorgenkind, das besonderer Aufmerksamkeit bedurfte, damit ihm kein Unglück geschah und es bleibenden Schaden nahm. Penibel achtete sie auf jeden Einzelnen, kannte seinen Namen und seine Herkunft. Sie wusste jederzeit, wo sie sich befanden, da sie jedem einen Platz gab, der zu seinem Charakter passte. Manche Zeitgenossen mussten alleine leben, andere, vor allem die jüngeren, pflegeleichteren, kamen in Gemeinschaftsunterkünfte.
Pam lebte gerne mit ihnen, sie fühlten sich bei ihr gut aufgehoben. Schließlich verhalf sie ihnen zu der Aufmerksamkeit, die ihnen zustand. Ihren Freundinnen, überhaupt anderen Frauen gönnte sie keinen von ihnen. Natürlich hielten sich ihre Freundinnen auch einige Exemplare, denn alle wollten modisch sein und nicht als Außenseiterin gelten. Dennoch behandelte kein anderes Mädchen und auch keine der Frauen, die sie kannte, diese exotischen Schönheiten wie sie es verdienten. Keine außer Pam. Nur Pam hatte wirklich ein Herz für sie. Andere ließen sie achtlos zurück, vergaßen sie, sahen sie nur als Spielzeug oder als brauchbares Utensil, um Männern zu gefallen. Aber ihre Schützlinge waren nun mal kein Spielzeug. Es gab ein paar echte Diven, die im Mittelpunkt stehen wollten, auch einige höchst empfindliche Sensibelchen waren darunter, die von den anderen getrennt einquartiert werden mussten. Pam liebte alle Kinder gleichermaßen, sie betreute jedes, als wäre es ihr einziges.
Die Befreiungsaktionen waren zuerst ihrer Mutter aufgefallen, als sie eines Tages Pams Zimmer betrat ohne vorher anzuklopfen und ihre Tochter dabei ertappte, wie sie rund zweihundert ihrer heimlich ins Haus geschmuggelten Kostbarkeiten überall im Raum verteilt hatte und sie mit verträumtem Blick ansah. Damals ging Pam noch zur High School. Nach Ansicht ihrer Mom trieb sie sich zu häufig in der Nähe ihrer Angebeteten herum. Sie gab ihr komplettes Taschengeld aus, um wenigstens einige von ihnen in ihrem Zimmer unterbringen zu können. Zuerst in ihrer Kommode, später in Hutschachteln, Geschenkboxen, in Satinsäckchen, die sie heimlich in ihrem Zimmer für sie nähte, um sie darin weich zu betten.
Sobald Pam ihr wöchentliches Taschengeld erhalten hatte, überlegte sie, wie viele ihrer Begehrten sie nach Hause holen konnte. Leider war es ihr kaum möglich, ohne Geld aktiv zu werden. Dabei war es in ihren Augen wichtig, möglichst viele, nein, wirklich alle Objekte in Sicherheit zu bringen. Pam hasste das Wort „Objekt“, doch sie musste vorsichtig sein. Es war besser, neutrale Begriffe zu verwenden, und nicht von ihren „Schützlingen“, „Schätzchen“ oder eben von „Lieblingen“ zu reden. Niemand verstand sie, Mom und Dad schauten sie mit einem, wie sie fand, mitleidigen Blick an, wenn sie sich so ausdrückte. Schon der Arzt, zu dem sie ihre Mutter während der High Schooljahre gebracht hatte, achtete auf Pams Wortwahl und wollte sie ebenso davon abbringen wie alle anderen Doktoren danach. Bis hin zu Doktor Quentin. Eigentlich war er der Schlimmste. Jedes Wort, jeden Satz hinterfragte er. Wieso nannte Pam diese Objekte ihre Lieblinge? Sah sie denn nicht, dass sie von ihnen keine Liebe bekam, ja niemals würde erwarten können? Weshalb dann diese Nähe, die man doch nur zu Menschen aufbauen konnte?
Als ihre Leidenschaft entflammte, sie war etwa vierzehn, dachte Pam, es sei einfach, sich ihren Auserwählten zu nähern und sie unauffällig in die Freiheit zu entführen. Wie schwer konnte das sein? Man suchte sich eines aus, achtete darauf, unbemerkt zu sein, nahm es an sich und verschwand so schnell wie möglich. Und dann kam man am besten erst wieder an den Ort zurück, wenn eine lange Zeit vergangen war. Inzwischen konnte man an vielen Stellen weitere Befreiungsaktionen starten. Ein Kinderspiel. Das leider eines Tages, Pam war sechzehn und hatte ihre Befreiungsaufgabe inzwischen nahezu perfektioniert, ein jähes Ende fand, während die Besuche bei immer neuen Ärzten ihren Anfang nahmen. Man hatte Pam erwischt, wie sie einen weiteren Schatz barg, allerdings ohne ihr Taschengeld dafür auszugeben. Schließlich tat sie etwas Sinnvolles, wozu also bezahlen? Diese Vorgehensweise nahm wie gesagt in ihrem sechzehnten Lebensjahr ein Ende. Von da an musste Pam mit ihrem Taschengeld haushalten so gut es eben ging. Das bedeutete natürlich traurige Stunden, wenn sie wieder einmal nach den unzähligen Begehrten schaute, die sie nicht mit nach Hause nehmen durfte.
Das war vor mehr als zehn Jahren. Heute konnte sie dank ihres Gehaltes jeden Monat völlig legal eine beträchtliche Zahl der armen Eingesperrten befreien. Aber es reichte dennoch nie. Leider brauchten ihre Lebenshaltungskosten das meiste Geld auf. Vor zwei Jahren war sie nun endgültig wegen ihrer Lieblinge in eine tiefe Krise gerutscht. Pams Schuldenberg war beträchtlich. Widerwillig, nur gezwungenermaßen hatte sie eingewilligt, anstatt in ein Sanatorium zu gehen zweimal pro Woche Doktor Quentin aufzusuchen. Ihre Mom hatte sich mit dem Schuldenberater zusammengetan und diese Maßnahme eingefädelt. Nur um Pam zu helfen, wie sie beide betonten. Ihr blieb keine Wahl, wenn sie wenigstens ab und an ihre Lieblinge sehen wollte, was im Sanatorium unmöglich gewesen wäre.
„Zum Teufel mit ihnen, mein lieber Doktor der Psychiatrie Samuel Quentin“, flüsterte Pam. „Jetzt oder nie. Ich muss handeln.“ Ihre Hand schoss nach vorne. Längst hatte sie ihre Wahl getroffen. Entschlossen griff sie zu, nahm ihren neuen Liebling fest in die Hand. Rasch warf sie einen letzten bedauernden Blick auf die große Schar der Zurückbleibenden. Dann marschierte sie mit zügigen Schritten in Richtung Ausgang, stoppte allerdings kurz bevor sie die Glastür erreichte. Pam lächelte die Dame hinter dem Tresen an, reichte ihr schweren Herzens ihren Schatz hinüber, beobachtete mit besorgter Miene, wie ihn die Dame in eine glänzende Tüte steckte.
Pam atmete auf, als ihr die nette Kassiererin ihre Beute zurückgab. Offenbar hatte sie keinen Schaden genommen. Erleichtert legte sie ein paar Geldscheine auf die Theke und steckte die Münzen ein, die ihr gereicht wurden. Sie nickte scheu zum Gruß und verließ das Geschäft. Vor der Tür nahm sie ihren Schützling sofort aus der Tüte, um ihn für immer in die Freiheit zu entlassen. Sein neues Zuhause erwartete ihn. „Heute habe ich es nicht geschafft. Ab jetzt höre ich aber bestimmt damit auf, ständig neue Lippenstifte zu kaufen“, dachte Pam. Sie würde den Rückfall beichten müssen, das war klar. Doch bis zu ihrem Termin bei Dr. Quentin waren es ja glücklicherweise noch immer vier Tage, vier Stunden und zweiundvierzig Minuten.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Pam ist also ein Lipstick Junkie. Kommt mir irgendwie bekannt vor.
Der Lippenstift: „Irrepressible“ von Estée Lauder
Last modified: 2. August 2020