Sie wurde niemals erwischt. Bis sie einen fatalen Fehler beging.
„Was für eine Schweinerei. Das nennt man wohl einen erfolgreichen Blattschuss“, stöhnte Gerit Blohm. Auf Zehenspitzen näherte sich die Gerichtsmedizinerin der am Boden liegenden Leiche. Sie beugte sich über sie, schaltete die Aufnahmefunktion ihres Handys ein und diktierte Datum, Uhrzeit, den Fundort der Toten sowie die auf den ersten Blick zu erkennenden Fakten wie die Lage und äußeren Verletzungen. Vorsichtig bewegte sie den Oberkörper des Leichnams. „Weiblich, vollständig bekleidet, schwarze Strumpfmaske über dem Kopf, keine sichtbaren Verletzungen außer der mutmaßlich zum Tode geführten Schussverletzung in das Gesicht. Nein, ich berichtige: in die Stirnmitte. Geschätzte Todeszeit zwischen null und drei Uhr. Genauere Erkenntnisse folgen nach der Obduktion.“ Sie schaltete das Gerät aus, richtete sich auf und raunte dem Kriminalbeamten, der sich wie sie über die Tote gebeugt hatte, zu: „Ihr könnt sie wegbringen oder, besser gesagt, ihren Körper und den Rest des Kopfes.“
Der Fall war offenbar klar: Es handelte sich um eine Serienräuberin, nach der bislang vergeblich gefahndet worden war. Genau genommen hatten die Ermittler nicht damit gerechnet, dass eine Frau hinter den Einbrüchen stecken könnte. In der vergangenen Nacht war sie, man hatte sie inzwischen als die britische Staatsbürgerin Patricia Wallis Patton identifiziert, wie immer lautlos in eine Villa eingestiegen. Zum ersten Mal hatte sie einen Auftrag in Frankfurt am Main angenommen. Das Haus im noblen Sachsenhausen gefiel ihr. Edles Ambiente, aber nicht protzig, ohne diesen widerlichen Geruch neureicher Emporkömmlinge. Hier roch es nach altem Geld, was sie auf einen Blick an der klassischen, geschmackvollen, ausgesprochen gediegenen Einrichtung erkannte. Sie hatte die Alarmanlage entschärft, es gehörte zu ihrer Signatur, den Code von Alarmanlagen in Windeseile zu entschlüsseln. Dann huschte sie durch die Räume, wobei sie absolut nichts in Unordnung brachte, auch das war typisch für ihre Arbeitsweise. Sie schien genau zu wissen, wo sich die für sie interessanten Gegenstände befanden. Es war kein Zufall, dass man sie bisher nicht erwischt hatte. Patricia war eine brillante Rechercheurin, die auch nicht das kleinste Detail eines Coups dem Zufall überließ. Außerdem konzentrierte sie sich ausschließlich auf tatsächlich verkäufliche Ware. Sie erlag niemals dem Verlangen, einfach etwas zu klauen, was ihr eben ins Auge sprang. Sie hatte einen Plan, von dem sie nie abwich.
Die Kripo vermutete einen ausgewiesenen Kunstfachmann hinter den Taten. Damit lagen die Ermittler zwar einerseits richtig. Patricia Patton hatte ihr Kunstgeschichtsstudium erst kurz vor dem Schlussexamen aufgegeben, uns sich ganz „der Praxis“ zuzuwenden. Der Reiz war einfach zu groß, je mehr ihr bewusst geworden war, welche Verdienstmöglichkeiten sie in der Auftragsdiebstahlbranche erwarteten. Allerdings nur in der Königsklasse, dem Raub von Kunstgegenständen aus privaten Sammlungen. Keine Museumseinbrüche, keine Kirchen oder andere Institutionen, sondern ausschließlich „von privat für privat“. Sie arbeitete allein, nahm nur Aufträge an, die sie als sicher, wobei es um ihre eigene Sicherheit ging, einstufte. Sie agierte international und, das war ihr wichtig, erledigte höchstens zwei Aufträge pro Jahr, meistens weniger. Patricia ließ sich niemals drängen, legte das Datum der Tat fest, wobei sie stets eine angemessene Vorbereitungszeit einplante. Sie kundschafte die Gebäudesicherung aus, legte sich extrem leicht zu transportierendes Handwerkszeug zu, beschaffte sich die optimale Kleidung, leicht, aus geräuschlosem Gewebe, dazu Sportschuhe mit extrem leisen Sohlen und flachem Profil, wie die Kleidung in tiefstem schwarz. Komplettiert wurde die Ausstattung durch einen durchdacht funktionalen Rucksack aus dem gleichen ultraleichten Material, den sie sich eigens anfertigen ließ. Ihre Augen trainierte sie, sich rasch an Dunkelheit zu gewöhnen. So musste sie die Taschenlampe nur selten beziehungsweise nur ganz kurz zur groben räumlichen Orientierung einschalten.
Gerit bediente sich aus der Kaffeekanne. „Eigentlich ist der Fall gelöst. Oder gibt es etwas Neues?“, erkundigte sich der Kripobeamte, während sich die Gerichtsmedizinerin einen Stuhl neben seinen Schreibtisch zog. Der Mann wartete bis sie Platz genommen, einen Schluck der mäßig warmen braunen Brühe getrunken, geseufzt, die Augen verdreht, „scheint offenbar nicht nur ein Klischee zu sein, dass es bei der Polizei keinen Kaffee gibt, der den Namen verdient“ gemeckert hatte und dann mit ihrem Bericht begann: „Erst mal ist neu, dass wir seit Jahren einen Dieb, aber keine Diebin gesucht hatten. Ich habe mich schlau gemacht über diese Frau, die ich am Tatort nur an ihren Haaren als solche erkannte. Na ja, an dem mit Blut und Gehirnmasse verschmierten blonden Geflecht, das um ihren zerschmetterten Kopf hing. Ihr Overall und die Sportschuhe ließen nicht auf eine Frau schließen. Ich habe mich, wie gesagt, mit dieser Dame befasst, die ihr seit einigen Jährchen vergeblich gejagt habt. Sie galt in einschlägigen Kreisen als Perfektionistin, als Koryphäe, die ihr Fach beherrschte wie kein anderer, wenn man die Liste ihrer Raubzüge anschaut. Und klarer könnte der Tathergang wohl kaum sein: Hausherr kommt völlig unerwartet zurück aus den Ferien, ist zwar irritiert, als er die Alarmanlage ausgeschaltet, die Haustür aber unversehrt vorfindet. Dennoch schöpft er keinerlei Verdacht, bis er der Dame quasi von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht. Er steht im dunklen Flur, sieht, die Tür rechts neben dem Eingang ist einen winzigen Spalt offen. Jetzt wird er doch misstrauisch, denn dieser Raum ist niemals geöffnet. Darin befindet sich seine kostbare heiß geliebte Sammlung russischer Ikonen. Da er ein ebenso vermögender wie misstrauischer Mensch ist, trägt er ständig eine unauffällige Pistole bei sich. Die zückt er also, bedroht den Eindringling, den er aufgrund der schwarzen Verkleidung kaum wahrnehmen kann, dessen Geschlecht er allerdings sowieso nicht erkennt. Er befiehlt dem Einbrecher stehen zu bleiben, was der natürlich nicht tut. Der Hausherr zielt, auch wenn er nicht sicher sein kann, den Mann tatsächlich im Visier zu haben, es ist schließlich stockdunkel im Zimmer, die Rollläden sind geschlossen. Er schießt, er trifft, und zwar punktgenau in den Kopf.“„Vielen Dank für die aufschlussreiche Zusammenfassung unserer Erkenntnisse, Frau Doktor“, knurrte der Kripobeamte. „Bist du in der Lage etwas, das wir nicht wissen, vielleicht sogar was spektakulär Erhellendes zu Täterin oder Fall beizusteuern?“
„Wie konnte der Mann bei völliger Dunkelheit nicht nur die Person treffen, sondern auf ihren Kopf zielen, ohne auch nur die Körpergröße erkannt zu haben?“, fuhr die Medizinerin fort. Diese Frage hatte sie seit zwei Tagen beschäftigt, seit sie die Leiche im Institut auf dem Tisch und die ersten groben Erkenntnisse dem Kollegen telefonisch mitgeteilt hatte. Jetzt atmete Gerit tief ein, ließ eine Kunstpause folgen, lächelte, holte zu ihrem großen Auftritt aus. „Patton arbeitete stets akribisch, ihr Ruf als dezenter Superprofi eilte ihr voraus. „Also, Herr Oberermittler, dann lüpfe ich mal das Geheimnis, bevor du vor Neugier platzt“, grinste sie. „Du hast selbstverständlich völlig recht. Nichts deutete darauf hin, dass dein Täter einer Frau gegenübersteht. Genau genommen konnte er nicht einmal die Umrisse einer Gestalt sehen, so dunkel war es im Zimmer. Ich habe sein Aussageprotokoll wieder und wieder gelesen, und dabei hätte ich fast die entscheidende Kleinigkeit übersehen.“ Sie ließ eine Kunstpause folgen, nippte an der Tasse, schlug die Beine übereinander, wobei sie die offensichtlich ungeduldige Miene des Polizisten ignorierte und schließlich weiter berichtete: „Der Täter scheint zwar ein ziemlich versierter Schütze zu sein. Und doch verpasste er das eigentliche Ziel um circa zwanzig bis dreißig Zentimeter. Warum ich das weiß? Er gibt zu Protokoll, er habe ein starkes Glimmern wahrgenommen.“
Die Ärztin zog ein Blatt Papier aus der Tasche ihres Arztkittels und las laut: “Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Aber ich konnte noch nicht einmal Umrisse erkennen, ich wusste nicht genau, wer mir gegenüberstand oder ob ich die Person überhaupt direkt vor mir hatte. Konnte ebenso gut sein, sie stand seitlich. Es gab ja keine Geräusche, die mir geholfen hätten, die Waffe auf sie zu richten. Doch dann sah ich ein Glimmern. Eine Sekunde lang dachte ich allen Ernstes, es wären Glühwürmchen im Zimmer. Was mir dann doch absurd erschien. Also dachte ich, der Dieb trägt eine Kette oder irgendein Schmuckstück. Ich zielte auf Verdacht in die Richtung des Glimmerns, in die Herzgegend, wie ich vermutete. Genau genommen war ich wohl etwas davon entfernt, denn das Funkeln blendete mich zu sehr, ich konnte den Blick nicht gezielt darauf halten. Doch ich hatte offenbar getroffen, da ich, nachdem ich den Schuss abgegeben hatte, augenblicklich ein Geräusch hörte, als sei jemand zu Boden gestürzt. Als nichts weiter zu hören war, nahm ich meinen Mut zusammen, ging rückwärts in Richtung der Zimmertür. Ich ertastete den Lichtschalter gleich neben der Tür und schaltete die Deckenlampen an. Was ich sah, war entsetzlich. Ich hatte den Einbrecher tatsächlich gestellt und erschossen, wie ich sofort erkannte. Denn die Person war offenbar von der Kugel in den Kopf getroffen worden. Sie lag auf dem Rücken, noch keine drei Meter von mir entfernt.“
„Aufgrund dieser Angaben habe ich mir die Reste ihres Gesichts also noch mal vorgenommen und die Hautpartikel genauer untersucht“, erläuterte die Ärztin. „Da es vor allem die obere Gesichtshälfte getroffen hat, konnte ich von den Lippen und dem unteren Wangenbereich genügend Material abnehmen, um einige weitere Tests durchzuführen. Ich hatte einige Glanzpartikel separiert, die mich irritierten. Die ließ ich von den Kollegen weiter säubern und getrennt analysieren.“ Sie schaute zum Kollegen hinüber, dessen Blick sich zunehmend verfinsterte. Er wartete gespannt auf die Pointe von Gerits Vortrag. „Wie ich mir dachte, es gab einen Grund für die Zielsicherheit des Schützen. Dieser Grund hat einen konkreten Namen, wie ich jetzt weiß: Space Illumination. Und weil du als Mann jetzt vermutlich mit zwei Füßen auf der Leitung stehst: Space Illumination ist der Name eines Lipgloss der Kosmetikmarke Douphne Warner. Dieses Zeug entwickelt auf den Lippen einen so unglaublichen Glanz, dass man ihn selbst in stockdunkler Nacht sehen kann“, ergänzte eine schmunzelnde Gerit Blohm.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Tipp an alle Einbrecherinnen: Kein Lipgloss während der Arbeit!
Der Lippenstift: „Nude-Tastic“ von Catrice
Last modified: 2. November 2017