Eine Geschichte ist nie zu Ende. Sie liegt im Tiefschlaf und wartet darauf, vom Autor wiedererweckt und weitererzählt zu werden.
In meinem Archiv finden sich jede Menge Ideen für Kurzgeschichten. Teilweise lediglich Gedanken im Telegrammstil notiert, manchmal der Anfang einer Short Story, oft eine komplette Erzählung, die auf Halde liegt, weil ich sie aus einer Laune heraus als Spielerei verfasst hatte. In diesem Archiv blättere ich, wenn ich auf der Suche nach Inspiration bin. Dann passiert es schon mal, dass Fragmente zusammenfinden und eine Geschichte entsteht, eine Szene weitergesponnen wird oder die Story eine gänzlich unerwartete Entwicklung erlebt.
„Sprache ist, geschrieben, ein eiskaltes Medium. Anders als Schauspieler und Sportler können wir verbessern, überarbeiten oder komplett neu schreiben, wenn wir wollen. Bis unsere Arbeit in Druck gegeben – wie in Stein gemeißelt – wird, haben wir die Macht darüber. Der erste Entwurf ist vielleicht holprig und anstrengend, aber der nächste oder der übernächste berauschend und erhebend. Hab Vertrauen: Der erste Satz ist nicht geschrieben, bis nicht der letzte Satz geschrieben ist. Erst dann weißt du, wohin du gewollt hast und wo du gewesen bist“, rät Joyce Carol Oates in ihrem Buch Beim Schreiben allein (Autorenhaus Verlag) dem Autorennachwuchs.
Die folgende kleine Kurzgeschichte beispielsweise schrieb ich im letzten Jahr, sie war Teil einer Übung, wie ich sie mir gelegentlich selbst stelle. Beim Durchstöbern der Archivdateien blieb ich an diesem Text hängen.
Auf dem Abstellgleis
Das Leben hat mich aufs Abstellgleis geschoben. Dem Zugverkehr schaue ich aus der Entfernung zu, nehme jedoch nicht mehr daran teil. Ich warte. Worauf? Worauf genau warte ich auf meinem Gleis abseits der Hauptader des Bahnhofs? Bin ich schon in so schlechtem Zustand, dass nur noch verschrotten für mich infrage kommt? Warte ich darauf, entsorgt zu werden? Oder hat man mich auf diesem abgelegenen Gleis abgestellt, bis man wieder Verwendung für mich findet? Vielleicht weil ich ein Spezialwaggon bin, den man für besondere Transporte einsetzt. Kein Allzweckwaggon, der ständig auf Fahrt ist, beladen mit immer anderer Ware. Und wohl auch kein Waggon, der die täglich gleiche, kurze Strecke hin- und zurückfährt.
Jetzt werde ich vom Abstellgleis auf die Hauptstrecke geschoben, beladen mit interessanten Dingen. Heute mit wunderschönen, elegant in allen Regenbogenfarben schimmernden Perlmuttknöpfen aus Japan. Sie werden Kleider, Blusen, Gürtel, Schuhe und Taschen verzieren oder verschließen. Ich bin glücklich, weil es wieder losgeht. Ich nehme Fahrt auf, werde meine kostbare Ware sicher ans Ziel bringen.
Ich war also überhaupt nicht abgeschoben, hatte nur eine Wartezeit bis zu meinem nächsten Einsatz. Warum war ich dann fast panisch, fühlte mich nutzlos, alt und hässlich? Weil mir niemand gesagt hatte, was aus mir werden wird. Dass ich lediglich eine Pause einlege, mein nächster Einsatz aber schon geplant ist, beschlossene Sache, sozusagen. „Ruhe dich aus, mache Pause, trinke einen Kaffee, iss etwas Ordentliches und schlafe ein wenig.“
Es lag an der Kommunikation. Es liegt immer an der Kommunikation. Dieses allgegenwärtige Lamento bestätigt sich in meinem Fall einmal mehr. Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich auf das Abstellgleis geschoben worden war. Wurde einfach dorthin rangiert, weg vom Verkehr, von meiner Waggonlebensader. Wie konnte ich darüber nicht bestürzt, ängstlich und zunehmend mutloser meinem scheinbar beschlossenen Ende entgegensehen? Weshalb sprach niemand mit mir – und warum habe ich niemanden nach dem Grund gefragt?
Staub entfernen und weiterschreiben
Eine Geschichte ohne Anfang und Ende, erzählt aus der Ich-Perspektive eines Eisenbahnwaggons. Ich habe keine Ahnung, wie es zu diesen Zeilen kam, die ich mit der Erkenntnis schloss, alles (was genau bedeutet alles in diesem Kontext?) liege an der Kommunikation. Jetzt bleiben mir mehrere Möglichkeiten, mit den Klagen, dem Gefühl des Verlassenseins des Waggons umzugehen.
Es könnte eine Erzählung für Kinder entstehen, was bedeutet, der Titel lautet nicht mehr Auf dem Abstellgleis, sondern vielleicht Der einsame kleine Eisenbahnwagen. Der anonyme Ich-Erzähler wird zum kleinen Waggon namens Paul, der verängstigt auf einem Gleis weitab seiner Waggonfamilie steht. Entscheide ich mich für diese Version, muss ich die Sprache völlig verändern. Kein Kind beklagt etwa, seine Probleme entstünden aufgrund mangelnder Kommunikation. „Niemand hat mir gesagt, wie lange ich hier warten soll. Warum darf ich nicht bei den anderen stehen?“, wird es fragen. Und es erwartet Antworten, die ihm seine Lage erklären, die es beruhigen, die ihm aus der beängstigenden Situation heraushelfen. Es müsste folglich mindestens eine zweite Figur auftauchen, die Pauls Geschichte zu einem glücklichen Ende führt.
Bleibt Auf dem Abstellgleis eine Kurzgeschichte für Erwachsene, sollte ich die Analyse des Problems der fehlenden Kommunikation vertiefen. Warum frage ich nicht nach, wenn mir eine Situation unangenehm erscheint? Weshalb teilte mir niemand mit, warum und wie lange ich hier warten soll? Mangelt es mir an Mut oder an Selbstbewusstsein? Bin ich zu wenig durchsetzungsfähig? Wie ist mein Verhältnis zu den anderen Waggons und zur Lokomotive?
In Version Nummer drei bleibt es bei einer Story für Erwachsene, erzählt aus der Ich-Perspektive. Allerdings setzt sich der Protagonist (oder die Protagonistin?) kritischer mit der prekären Lage auseinander. Das selbstmitleidige Jammern wird sich am Ende der Analyse als überflüssig erweisen. Der Waggon ist in der Lage, aktiv zu werden, sich bemerkbar zu machen und schlüssige Erklärungen einzufordern. Lässt sich aus Auf dem Abstellgleis eine Art Heldengeschichte entwickeln?
Es macht Spaß, in unfertigen Texten zu stöbern, alternative Ansätze zu finden. Oder wie in diesem Fall Lust zu bekommen, sich ein zweites Mal auf die Geschichte einzulassen, um am vorhandenen Gerüst entlang zu schreiben, indem ich abändere, streiche, hinzufüge, weitererzähle, was der Waggon empfindet und unternimmt, um aus seiner Misere zu entkommen.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Ich denke, der Waggon heißt Pauline. Sie wird ihre Lage analysieren und emanzipiert handeln.
Der Lippenstift: „Keep In Touch“ von Astor
Last modified: 1. Dezember 2019