Was tatsächlich zählt, ist der Augenblick. Den sollten wir nicht verpassen.
Deadlines einhalten, Lesereisen organisieren, Bücher und einen Blog schreiben. Daneben das Privatleben, die Familie, wenn auch keine Kleinkinder mehr. Wie sie dieses Pensum auf die Reihe bekomme, fragte ich eine Autorenkollegin. Sie antwortete mit der Entschuldigung, sie könne mir keinen brauchbaren Tipp geben. Was keineswegs stimmte, denn zwischen einigen Erklärungsversuchen hatte sie einen Satz geschrieben (wir kommunizierten via E-Mail), der mir beim zweiten Lesen als der wichtigste, der eigentliche Rat bewusst wurde: „Ich lebe sehr im Heute, plane wenig voraus, weiß oft nicht, wohin ich am nächsten Tag zum Lesen reisen muss“, hatte sie geschrieben. Für das Bekenntnis „Ich lebe sehr im Heute“ dankte ich ihr, denn in diesem Teilsatz steckt die zentrale Aussage. Er bringt meine Misere auf den Punkt (danke nochmals, liebe Jutta!).
Besonders deutlich erlebe ich, wie schwer es mir fällt, mich auf die Gegenwart, auf den Moment zu konzentrieren, wenn ich wieder einmal versuche zu meditieren. Mein Gehirn scheint nur darauf zu warten, die Gedanken in mehreren Spuren nebeneinander herjagen zu können, sobald ich mich hinsetze und beginne bewusst ein- und auszuatmen. Statt, wie empfohlen, die Gedanken „weiterziehen“ zu lassen, hechte ich ihnen hinterher, spinne sie weiter und lande unweigerlich in der Vergangenheit oder Zukunft. Woher oder wohin anstatt jetzt, in diesem Augenblick. Wer an dieser Stelle die Augen verdreht und befürchtet dieser Blogbeitrag biege in die Esoterik ab, sollte wegklicken. Den Zweiflern zur Beruhigung: Es ist absolut keine Spinnerei, kein abgedrehtes unverständliches Geschwätz, wenn ich auf Mein blauer Lippenstift ein Problem thematisiere, das die meisten von uns kennen dürften. Wir beschäftigen uns mehr mit dem Gestern und Morgen als mit dem Hier und Heute.
Als ich die Antwort meiner Kollegin las, wurde mir einmal mehr klar: Diese Arbeitsmenge schaffte ich früher auch, während mir heute die Zeit durch die Finger zu rinnen scheint. Ich fühle mich viel schneller überfordert, habe mehr Ideen und Projekte im Kopf, als ich in vierundzwanzig Stunden packen kann. Okay, minus rund sieben Stunden Schlaf, um exakt zu sein. Möglicherweise will ich wirklich zu viel, sollte den einen oder anderen Einfall sausen lassen, wie mir mein Coach schon lange rät. Bedauerlicherweise fehlt mir dafür meistens die Gelassenheit, muss ich kleinlaut zugeben. Ich neige dazu, mich zu verzetteln. Das liegt unter anderem an der noch immer nicht selbstverständlichen Freiheit, meine Projekte selbst aussuchen zu können. Bis vor wenigen Jahren war ich in ein straffes Aufgabenkorsett gepresst, da blieb kaum Raum um Neues in Angriff zu nehmen. „Gelassenheit beginnt im Kopf, das heißt sie entsteht durch die richtige Einstellung zum Leben, zu uns selbst, den Problemen und anderen Menschen“, so Dr. Doris Wolf. Die Psychologin rät zu passiven oder aktiven Entspannungsmethoden. Autogenes Training, Yoga oder Progressive Muskelentspannung zählen zu den passiven Anwendungen, während Sportarten wie Joggen, Tanzen oder Walken als aktive Methoden gelten.
„Als Kinder waren wir alle spontan. Wir haben Moment für Moment gelebt, ohne uns über die Zukunft zu sorgen oder über die Vergangenheit zu grämen“, sagt der Psychologe Dr. Rolf Merkle. Das Kind in uns ist eigentlich nicht verschwunden, wir vergessen es lediglich in unserem Erwachsenen-Hamsterrad. Das Leben ist kein Ponyhof. Doch es könnte einer sein, wenn wir uns Talente von Kindern abgucken, die die Journalistin Michèle Rothenberg in dem Artikel „10 Dinge, die wir von Kindern lernen können“ zusammenfasst.
Ich stelle fest, alle diese Eigenschaften sind irgendwo tief in mir verbuddelt, abgelegt und vergessen unter dem Vorwand des Erwachsenseins.
1. Den Moment genießen.
2 Auf die kleinen Dinge achten.
3. Jeden Morgen neu in den Tag starten.
4. Lachen, so oft es geht.
5. Regelmäßig was Neues ausprobieren.
6. Sich keinen Kopf um Äußerlichkeiten machen.
7. Auf Konventionen pfeifen.
8. Kontakt aufnehmen.
9. Ehrlich zu sich selbst sein.
10. Einfach mal nichts tun.
Aber: Wie finde ich zu diesen Fähigkeiten zurück? „Hören Sie auf, Ihre Probleme zu füttern. Dann sind sie weniger belastend“, rät Dr. Merkle. Achtsamkeit heißt das Schlüsselwort zum „Wie“. Der Tipp des Psychologen: „Üben Sie, mit Ihrer Aufmerksamkeit nur bei dem zu sein, was Sie gerade sehen, hören und schmecken. Atmen Sie ein paar Mal tief ein und aus und entspannen sich. Schließen Sie – bildlich gesprochen – die Tür hinter sich und konzentrieren sich nur auf das, was gerade da ist. Je mehr Sie das üben, umso leichter wird es Ihnen fallen.“ Ein weiterer Versuch meditieren zu lernen wäre also sinnvoll, um mein Gedankenkarussell für eine Erholungsphase zu stoppen. Irgendwann sollte es selbst mir gelingen, meine Gedanken zu beruhigen. Tempoberuhigte Einbahnstraße anstatt vierspurige Autobahn ohne Geschwindigkeitslimit. Außerdem fällt mir auf: Schreiben ist nicht nur Arbeit und Kreativität, sondern auch ein spielerischer Prozess. Ich sollte folglich wesentlich mehr Zeit mit meinem stiefmütterlich behandelten Kind verbringen, siehe oben Punkt 1 bis 10.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Übung macht bekanntlich den Meister. Der Text ist fertig. Das bedeutet: Aufrecht sitzen, Augen schließen, einatmen, ausatmen – und sonst NICHTS.
Der Lippenstift: „Rich Raisin Frost“ von Revlon
Last modified: 14. Dezember 2017