Anfang 2017 hatte ich die drei Freundinnen in meinem Garten beobachtet. Heute sind sie wieder da. Ich habe Zeit. Ich werde lauschen.
Es ist der 28. Dezember 2017. Chrissie, Bella und Pepina machen sich auf den Weg zum letzten Stammasttreffen des Jahres mit ihren Freundinnen. Der Himmel ist grau, es ist windig und nieselt beständig. Doch was soll’s: Der Winter ist schon allein deshalb eine schöne Jahreszeit, weil diese hinterhältigen Katzen nicht so häufig durch den Garten strolchen. Aus unterschiedlichen Richtungen kommen die drei Sperlingsweibchen angeflogen. Bella ist zuerst im Garten und setzt sich auf ihren Lieblingsast. Der ist weit genug von der Erde entfernt, um Ruhe vor Katzenbesuch zu haben. Innerhalb weniger Minuten finden sich auch die Freundinnen ein, nehmen zu beiden Seiten von Bella Platz.
Natürlich habe ich keine Ahnung, ob es sich tatsächlich um die gleichen Sperlinge handelt, die ich schon häufiger beobachtete. Vermutlich nicht. Andererseits könnte es doch sein, dass die Drei sich tatsächlich regelmäßig zum Tratsch unter Freundinnen in meinem Strauch treffen. Um nicht den Anschein von Aufdringlichkeit zu wecken, halte ich etwas Abstand von der Balkontür, bleibe ruhig stehen und stelle mir vor, worüber sich die niedlichen Piepmätze gerade unterhalten.
Pepina: Prima, du hast einen tollen Platz freigehalten.
Bella: Ja, gell, so schön nah am Vogelhaus. Ich dachte, falls wir Hunger bekommen. Aber Vorsicht, dreht jetzt nicht die Köpfe. Sie steht wieder am Fenster.
Chrissie (neigt nur leicht das Köpfchen, sieht mich stehen): Ich für meinen Teil bin noch abgefüllt von heute Morgen. In den Gärten hier geizen sie wirklich nicht mit Futter. Sogar Netze mit Meisenknödel hängen überall rum. Diese Tanten fressen natürlich nicht wie wir gewöhnlichen Bürger aus dem Gemeinschaftsnapf. Stört euch unsere Beobachterin? Ist doch ganz lustig, ihr die netten Vogelmädchen vorzuspielen.
Bella: Nein, es ist alles im Lot. Von mir aus kann sie am geschlossenen Fenster stehen, solange sie will. Dann hört sie ja nicht was wir reden. Wir wollten doch heute klären, ob wir nächstes Jahr in eine andere Straße umsiedeln. Dort drüben (sie weist mit dem Schnabel über die Hecke in Richtung der gegenüberliegenden Straßenseite) haben sie in diesem Sommer wunderbare Bäume gepflanzt. Mal sehen, wie sich dort die Frequenz entwickeln wird. Wahrscheinlich werden wir uns um einen Stammplatz streiten müssen.
Pepina: Es wird das immer gleiche Gedränge werden, wenn die ersten Marktschreier Wind bekommen haben von den neuen Gärten. Was meint ihr, sollen wir schon jetzt im Winter…
Chrissie: Och nö, lass uns hier weiter treffen, auch wenn wir von der Fensterfrau beobachtet werden. Wenigstens bis zum Frühling. Ich mag diese ollen Hecken mit den dichten Blätterwänden. Hab hier schon oft übernachtet. Ein bisschen hungrig bin ich jetzt übrigens doch (schaut zum Vogelhaus).
Bella: Leute, wir wollten besprechen, was wir im kommenden Jahr unternehmen. Der Umzug ist die eine Sache. Die können wir gerne noch bis zum nächsten Treffen vertagen. Was ist aber zum Beispiel mit dem Badeplatz? Wollen wir weiterhin auf dem Garagendach baden oder uns eine der schicken Tränken suchen, die in den Gärten der neuen Häuser stehen?
Pepina: Also ich denke, wir sollten schnell rüberziehen. Wenn wir uns einen Platz gesichert haben, können wir in Ruhe zugucken, wie sich die anderen streiten. Wer zuerst kommt…
Bella: Peppi, bitte, das wird schon. Die Bewohnerin hier (zeigt mit dem Schnabel in meine Richtung) gackert doch immer davon, man müsse im Heute leben. Haben wir doch in diesem Sommer oft genug erlebt, wie sie Bücher liest, in denen es darum geht.
Pepina: Ja, und um Achtsamkeit. Und um Gelassenheit. Ich kann es nicht mehr hören (sie dreht den Kopf zur inzwischen leicht geöffneten Terrassentür). Ha, du hast recht, sie belauscht uns, diese neugierige Zicke.
Chrissie: Eine Zicke ist sie ja nicht gerade. Sie füllt das Vogelhäuschen dauernd auf (springt vom Ast, fliegt von der Hecke zum Vogelhäuschen, pickt einen Sonnenblumenkern und schwingt sich wieder zu den Freundinnen).
Bella: Lasst sie doch. Sie scheint sich zu langweilen, die Ärmste. Mag heute wohl kein Buch über Achtsamkeit (verdreht die Augen) lesen. Und wahrscheinlich fällt ihr auch nix ein, was sie auf ihrem Blog schreiben könnte. Wenn sie unsere Unterhaltung schon belauscht, sollten wir ihr eine irre Story auftischen. Was meint ihr, wollen wir sie ein bisschen foppen?
Chrissie und Pepina wie aus einer Kehle: Nein!
Bella: Warum nicht? Das macht doch Spaß.
Chrissie: Ach Leute, lasst sie doch in Ruhe. So interessant ist die Frau nun wirklich nicht. Außerdem: Wenn wir ihre Aufmerksamkeit noch stärker erregen, verlässt sie ihren Lauschposten überhaupt nicht mehr.
Pepina: Was haltet ihr davon, wenn wir die Location wechseln? Unsere Beobachterin gehen unsere Pläne für 2018 wirklich nichts an. Schließlich wollen wir in ihren beiden Restaurants zumindest bis zum Umzug weiterhin essen. Lasst uns in den Strauch nahe beim Vogelhaus im Vorgarten fliegen. Dort können wir in Ruhe weiterquatschen.
Chrissie: ja, das machen wir. Ich habe heute Morgen zufällig gesehen, wie sie dort den Futtervorrat im Vogelhaus aufgefüllt hat. Fürs Essen ist also gesorgt.
Bella (grinst): Sag mal Chrissie, denkst du eigentlich jemals an etwas anderes als ans Fressen?
Wie auf Kommando verlassen die drei Sperlinge den Ast, ziehen eine Schleife über die Terrasse, bevor sie um das Haus herum in Richtung des Vorgartens fliegen. Täusche ich mich, oder zwinkert mir Bella zu, während Pepina zu kichern scheint und Chrissie die Augenbrauen hochgezogen hat? Ich bleibe an der Balkontür stehen, traue mich nicht, ihnen zu folgen und am Küchenfenster weiter ihren Gesprächen zu lauschen.
Ich hatte angenommen, sie beachten mich nicht. Von wegen. Die drei Vogeldamen beobachten mich offenbar schon längere Zeit. Sie kennen sogar die Inhalte von Mein blauer Lippenstift. Ich fühle mich ertappt. Ihre muntere Betriebsamkeit scheint nur ein Ablenkungsmanöver zu sein, wenn sie bemerken, dass ich ihrem Treiben zusehe. Wer kiebitzt dann eigentlich bei wem?
Meine aktuelle Schreibstimmung: Eine letzte Erkenntnis in 2017, die ich ins neue Jahr mitnehme: Ziehe niemals voreilige Schlüsse.
Der Lippenstift: „Deep Red“ von Clarins
Last modified: 28. Dezember 2017