Es gibt viele Gründe, zu einem ebenso wirkungsvollen wie glücklicherweise frei verkäuflichen Mittel zu greifen, um einen miesen Tag zu retten.
„On a bad day there’s always lipstick“, so wird Audrey Hepburn zitiert. Als bekennender Lipstick Junkie stimme ich dieser Erkenntnis hundertprozentig zu. Der Lippenstift kam auf Mein blauer Lippenstift in letzter Zeit jedoch eindeutig zu kurz. Dabei ist er seit vielen Jahren mein Retter in der Not. Ganz im Sinne Audrey Hepburns fühle ich mich tatsächlich augenblicklich besser, wenn ich in den Spiegel schaue, nachdem ich Lippenstift aufgetragen habe. Mancher Bad Day nahm dank dieses kleinen Hilfsmittels einen weniger negativen Verlauf. Einatmen, ausatmen, Lipstick auflegen, besser fühlen. Was sich wie ein hohler Werbeslogan anhört, funktioniert bei mir zuverlässig.
Die Wirkung von Lippenstift auf die weibliche Psyche wurde immer wieder untersucht, seine Funktion als Soft Skill nie wirklich bewiesen, aber oft belächelt. In einer 2017 veröffentlichten Studie bescheinigt Rocco Palumbo von der Harvard Medical School dem Lippenstift endlich, was wir Frauen schon längst wissen: Er steigert das Selbstwertgefühl, hellt die Stimmung auf und verbessert somit unsere Leistungsfähigkeit.
Diese wissenschaftliche Erkenntnis lässt mich meine subjektive Erfahrung jetzt also als objektiv bestätigt sehen. In welchen bedeutenden wie unbedeutenden Situationen verhalf mir Farbe auf den Lippen zur Aufmunterung? Ich habe darüber ernsthaft nachgedacht.
Eines der wichtigsten Ereignisse in meinem Leben war die Geburt meines ersten Kindes. Kurz nach der Entbindung machte ich mich frisch, bürstete meine Haare, zog ein schönes Nachthemd an und trug zur Verwunderung meiner Zimmernachbarin Lippenstift auf. Sie sagte zwar kein Wort, ihr Blick zeigte allerdings ihre Gedanken: „Was soll denn diese Eitelkeit?“ Erschöpft, stolz und froh nach der Wucht der Entbindung wieder ein gepflegtes Körpergefühl zu haben, verzog ich mich zurück ins Bett und wartete, bis die Kinderpflegerin mir meinem Sohn brachte.
Die allmorgendliche Szenerie im Bad: Das gut erzogene Mädchen kämmt sich, spült sich den Geschmack der Nacht aus dem Mund, wäscht sich Gesicht, Achselhöhlen, Intimbereich. Ja, so kann ich mich an den Frühstückstisch mit meinem Partner setzen. Doch erst der anschließend aufgetragene Hauch Lipgloss hebt meine Laune. Zumindest lenkt er beim Blick in den Spiegel von den trotz kalten Wassergusses noch müden Augen ab.
So banal, so wirkungsvoll: Ich trage zu Hause Lippenstift, immer, auch wenn kein Besuch kommt. Bei der Hausarbeit, beim Putzen und natürlich beim Schreiben.
Die logische Folge aus diesem Geständnis: Ich verlasse das Haus niemals ohne Lippenstift. Auf sonstige Schminke kann ich sehr gut verzichten, aber wirklich nie auf Lippen Make-up. In wenigen Handgriffen lässt sich der Eindruck von Stil und Pflege erzielen. Das funktioniert selbst bei meinem bevorzugten Outfit für den Supermarkteinkauf: legerer (nicht schlampiger) Sportdress, Schal um den Hals, ein Strich Lipgloss auf Ober- und Unterlippe. Fertig.
An Bad Hair Days hilft neben Hut, Mütze oder Basecap – Lippenstift, was sonst? Während die Kopfbedeckung Schatten auf das Gesicht wirft, lenkt die Farbe auf dem Mund davon ab. Gloss, glänzender oder cremiger Lippenstift eignet sich als Eyecatcher übrigens besser als matte Farbe.
Nichts hilft bei verweinten Augen mehr, als den Blick auf den Mund zu lenken. Was Concealer und Grundierung nicht schaffen, bringt der Lippenstift ins Lot. Okay, den Streit mit dem Partner kann er kaum beibiegen, da muss ich schon selbst aktiv werden (oder er…). Aber meine Laune hebt er deutlich.
Im Flieger weine ich gewöhnlich nicht, steige aber aufgrund der trockenen Luft und trotz spezieller Tropfen oft mit geröteten Augen aus. Die Lösung, um beim Gepäckband weniger mitgenommen auszusehen: siehe oben. Gilt übrigens auch für Bahnfahrten, Messehallen und Konferenzräume mit Air Condition.
Und dann war da jener Morgen, an dem sich meine Nahrungsmittelallergie nach Jahren plötzlich wieder meldete. Einen Tag vor einem Event der Beautybranche, das ich als Fachjournalistin auf gar keinen Fall schwänzen durfte, wachte ich mit krebsroter Haut am Hals und ebensolchen Ringen um beide Augen auf. Zum Glück gehörte meine damalige Dermatologin zu den fortschrittlichen, will sagen kosmetikaffinen Ärztinnen, die mir den Rat gab die Rötungen an den Augen abzudecken, die Wimpern kräftig zu tuschen, einen bunten Seidenschal umzulegen und die stärkste Lippenstiftfarbe zu tragen, die mein Beautycase hergibt.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Frauen neigen dazu sich zu verstecken, sich kleiner und unwichtiger zu fühlen, als sie tatsächlich sind. So marginal der Lippenstift als Werkzeug für das Selbstbewusstsein sein mag: Ich trage ihn leidenschaftlich, am liebsten in sattem Rot.
Der Lippenstift: „Celebrity Red“ von Annemarie Börlind
Last modified: 1. Februar 2018