Sie sind wieder da. Ich habe keine Ahnung, woher sie kommen und wer sie auf mich angesetzt hat. Die CIA, der FSB, das BfV oder der MI6?
Beobachtet hatte ich die drei schon häufiger, wenn sie in meinem Garten einträchtig auf einem Ast saßen und sich unterhielten. Ich dachte, es handelt sich um Freundinnen, die sich zum Tratschen treffen und um zusammen einen netten Nachmittag zu verbringen. Aber vor ein paar Monaten bemerkte ich, dass nicht ich ihr Treiben beobachte, sondern dass sie mich im Visier haben. Das war vor meinem Umzug nach Berlin, ich hatte die drei vergessen. Bis gestern. Zuerst dachte ich, ich müsse mich täuschen. Das konnte überhaupt nicht sein. Doch als ich genauer hinschaute, erkannte ich sie wieder. Da saßen sie, wie immer nebeneinander aufgereiht, auf der alten Antenne auf dem Nachbarhaus und schauten in unser Wohnzimmerfenster.
Das waren Bella, Chrissie und Pepina, Irrtum ausgeschlossen. Was taten sie hier, hunderte Flugkilometer von unserem ehemaligen Garten entfernt? Weshalb waren sie die weite Strecke geflogen, um auf dem Dach eines Stadthauses anstatt auf ihren gewohnten Hecken zu sitzen? Und wieso starrten sie in meine Wohnung? Wer hatte sie hierher geschickt? Meine Vermutungen überschlugen sich: Kamen sie im Auftrag von Mark Zuckerberg, weil ich es partout ablehne, mein WhatsApp Account mit Facebook zu verknüpfen? Arbeiteten sie für Bill Gates, weil ich Windows 10 in die Schranken verwiesen habe und nicht jeden Zusatzschrott auf mein Notebook installieren lasse? Oder bildeten sie die Vorhut für einen Callcenter-Sklaven irgendeiner Marketingagentur, mit dem Auftrag meinen Alltag nach Möglichkeiten zur Kaltakquise für eine Versicherung gegen Hundeflöhe oder den bösen Blick, Autos oder das absolut ultracoole neue Mobiltelefonmodel zu durchforsten? Bisher sah ich mich als gänzlich durchschnittliche Bürgerin. Die Piepmätze hatte ich für ein harmloses Freundinnentrio gehalten, die sich regelmäßig in meinem Garten treffen. Zweimal falsch gelegen. Hatte ich mich also doch nicht getäuscht, als ich schon im letzten Jahr vermutete, dass sie mich überwachen, auch wenn sie es mit ihrem Geplauder unter Freundinnen zunächst aussehen ließen, als ob ich die Neugierige sei. Bellas Satz „Sie scheint sich zu langweilen, die Ärmste. Mag heute wohl kein Buch über Achtsamkeit lesen. Und wahrscheinlich fällt ihr auch nix ein, was sie auf ihrem Blog schreiben könnte“, klingt noch in meinen Ohren, bekommt jetzt aber eine weitreichende Bedeutung. Offenbar geriet ich bereits vor längerer Zeit ins Visier von Spioninnen, die nun eigens nach Berlin umgesiedelt sind, um mich weiter auszuschnüffeln und dem großen Unbekannten von meinen Aktivitäten zu berichten.
Was sollte ich tun? Konnte ich die Sperlingweibchen einfach ignorieren? Würde es helfen, die Gardinen zu schließen, was allerdings bedeutet, sie können nicht reinschauen, ich verhänge mir aber auch den Blick nach draußen auf die Hinterhöfe, die Gärten, die Nachbarhäuser. Das ist keine Lösung, soviel war klar. Ich würde stattdessen in die Offensive gehen, getreu meinem Motto: Umarme deinen Feind. Also öffnete ich einen Fensterflügel und winkte in Richtung Antenne, in der Hoffnung, die Nachbarn würden es nicht bemerken. Ich habe nämlich keine Lust, als merkwürdige Tante von gegenüber bekannt zu werden. Mit wedelnder Hand forderte ich die Sperlinge unmissverständlich auf, zu mir aufs Fensterbrett zu fliegen. Zuerst schauten sie sich verdutzt an, guckten dann wieder in meine Richtung, steckten schließlich die Köpfe zusammen, schienen sich zu beraten. Ich winkte heftiger. Endlich löste sich der in der Mitte sitzende Vogel aus dem Grüppchen, schwang sich in die Luft und flog in betont elegantem Bogen in Richtung meines Fensters.
Sie hatten Bella abgesandt, natürlich, das hätte ich mir denken können. Bella war nicht zimperlich, sie war die Draufgängerin des Trios. Betont lässig landete sie vor dem geöffneten Fenster. Schaute mich an. Grinste schief. Es folgte ein Dialog, den ich nicht wiedergeben möchte, da mich diese kleine kecke Spionin mit meinen intimsten Geheimnissen konfrontierte. Das Trio wusste alles über mich, meinen Alltag, meine Gewohnheiten, aber auch über meine Probleme und kleinen Laster. Auf das Ergebnis der Verhandlung bin ich jedenfalls stolz. Ich habe es tatsächlich geschafft, die drei Spatzen auf meine Seite zu ziehen. Während des Gesprächs mit Bella, die, nebenbei bemerkt, zunächst beharrlich darauf bestand, ihre Anwesenheit in Berlin sei purer Zufall (Städtereisen für Sperlinge?), kam mir die Idee ihr einen Deal vorzuschlagen: Wenn sie die Seiten wechseln würden, mich nicht mehr ausspionieren, sondern mit mir zusammenarbeiten, würde ich dafür sorgen, dass sie eine tragende Rolle auf Mein blauer Lippenstift erhalten. Sie würden ihre Recherchefähigkeit (klingt positiver als Schnüffelfähigkeit) nutzen, um aus Berlin zu berichten. Sie waren nicht nur unauffälliger, sondern deutlich flinker und mobiler als ich, könnten folglich durch die ganze Stadt streifen und mir ihre Impressionen erzählen. Diese würde ich, das ist der Deal, selbstverständlich in ihrem Namen veröffentlichen.
Bella die Unterhändlerin flog zu ihren Freundinnen zurück, um sich zu beraten. Als sie wenig später wieder auf dem Fenstersims saß, erfuhr ich, dass Pepina, Chrissie und sie „nicht abgeneigt“ seien. Allerdings forderten sie eine Probezeit, während der sie sehen wollten, ob ihnen die „Tätigkeit als öffentliche Person“ gefiele. Wie sie nebenbei erwähnte, hatten sie ohnehin schon darüber nachgedacht, den Agentenjob an den Nagel zu hängen.
Meine Gefühle sind zwiespältig. Einerseits bin ich froh, keine Beobachter mehr zu haben, die an Zuckerberg oder den großen Unbekannten berichten. Ob ich aber eine gute Teamplayerin sein werde, wird sich herausstellen müssen. Die Probezeit ist auf jeden Fall sinnvoll, denn ich habe keine Ahnung, mit welchen News mich die drei Grazien versorgen werden. Wird sich Mein blauer Lippenstift verändern – und: will ich das überhaupt?
Meine aktuelle Schreibstimmung: Mal sehen, ob die Teamarbeit mit dem Trio funktioniert. Beim Schreiben lasse ich mir jedenfalls nicht reinreden.
Der Lippenstift: „Miraculous Rose“ von Dr. Hauschka
Last modified: 16. April 2018