Mit dem Schreibtisch habe ich offenbar auch meine Disziplin aufgegeben.
Beim Umzug nach Berlin gab ich mein Arbeitszimmer auf. Zum ersten Mal nach Jahrzehnten bin ich ohne festen Platz zum Schreiben. Zwar saß ich ohnehin nicht ständig an dem riesigen Ecktisch, der den kleinen Büroraum nahezu ausfüllte. Ich schrieb im Sessel im Wohnzimmer, am Küchentisch oder abends im Bett, wenn ein Text dringend fertig werden musste. Die allermeiste Zeit verbrachte ich allerdings diszipliniert an meinem Schreibtisch mit Blick in den Garten. In Berlin schaue ich auf Häuser und Bäume. Ein Arbeitszimmer gibt es aber nicht mehr, selbst auf einen Schreibtisch verzichtete ich. Die Journalistin HKW brauchte einen Raum für sich allein; die Autorin Heide Kuhn-Winkler soll schreiben, wo immer sie mag. Kein Tisch soll beim Betreten des Zimmers zum Arbeiten auffordern. Soweit mein Plan.
Laut ihres Biografen versetzte sich die Schriftstellerin Patricia Highsmith in Arbeitsstimmung, indem sie es sich, umgeben von Zigaretten, Aschenbechern, Streichhölzern, einer Tasse Kaffee, einem Donut und einem Tellerchen Zucker, auf ihrem Bett bequem machte. Damit wollte sie den geringsten Anschein von Disziplin vermeiden, um den Schreibakt so lustvoll wie möglich zu gestalten. Leider spiele ich weder in der Liga der Highsmith noch möchte ich den Tag im Bett verbringen. Doch es scheint, als habe ich mit dem Schreibtisch auch meine Disziplin aufgegeben. Um mehr Zeit zum kreativen Schreiben zu finden, entledigte ich mich vieler Aufgaben. Jetzt ertappe ich mich beim Trödeln. Ich prokrastiniere, finde ständig „wichtigere“ Arbeit. Das von Autoren gefürchtete Wort „Schreibblockade“ geistert durch meinen Kopf. Die hatte ich bereits kurz nach dem Umzug Anfang letzten Jahres erlebt, aber inzwischen lange überwunden. Doch jetzt gerate ich abermals aus dem Tritt. Liegt es an den Verlockungen der Großstadt, etwas zu unternehmen, statt zu arbeiten? Brauche ich einen Arbeitsraum, der mich an die Pflicht des Schreibens erinnert? Soll ich morgens nicht erst aufstehen, sondern das Bett erst verlassen, nachdem ich ein Mindestmaß an Wörtern sinnvoll aneinandergereiht habe?
Gestern stieß ich zufällig auf WOOP, eine wissenschaftliche Methode, die ich ausprobieren werde, um beim Problem „Schreibtisch vs. Bett“ Klarheit zu gewinnen. „Was hält Sie davon ab, Ihren Wunsch zu verwirklichen? Was in Ihnen hindert Sie, ihn wahr zu machen? Wo liegt das zentrale Hindernis in Ihnen?“, nennt Gabriele Oettingen, Professorin für Psychologie an der Universität Hamburg und der New York University, zentrale Fragen von WOOP. Diese Methode zur Selbstmotivation beruht nicht ausschließlich darauf, positiv zu denken. „Wer auch negative Gedanken zulässt, hat mehr Erfolg“, so Gabriele Oettingen.
Last modified: 14. Mai 2019