Stecker ziehen

von HKWs Pinnwand

Gegen die zunehmende Dünnhäutigkeit hilft nur noch der Boykott.

Normalerweise verlasse ich morgens das Bett und spähe durch einen Spalt zwischen den Gardinen, um zu sehen, ob es ein sonniger Tag wird. Normalerweise ist seit ein paar Wochen vorbei. Jetzt stehe ich auf und greife zum Smartphone, um die aktuellen Meldungen zu Covid-19 zu lesen. Wie sehen die Zahlen für Berlin, Deutschland, Europa und der Welt aus? Diese Frage beschäftigt mich, das Wetter nicht. Mein Verhalten mag zwar in der momentanen Lage verständlich sein, es ist jedoch auch gefährlich. Ich checke die News häufiger, als es meiner Psyche zumutbar ist.
Dem Fernsehen verweigere ich mich schon seit Jahren, weil ich Nachrichtenmoderatoren mit akkuratem Seitenscheitel nicht mehr ertrage, deren mit sorgenvoller Miene vorgetragenes „Guten Abend!“ bereits Unheil erahnen lässt. In diesen Tagen bringt mich aber auch das Internet beziehungsweise die Nachrichtenflut zum Coronavirus an meine Grenzen. Es ist wie auf der Zuschauertribüne bei einem Tennismatch: Man dreht den Kopf in schneller Folge von einer Seite zur anderen, um den Ballwechsel zu verfolgen, um nichts zu verpassen. So fühle ich mich, seit das Virus die Welt in Atem hält. Ich lese Statements, höre verhalten gute Nachrichten, dem negative Prognosen auf dem Fuße folgen, Kommentare, Interviews und Meinungen, die die komplette Bandbreite vom Horrorszenario bis zur Haltet-durch-Beruhigungspille spiegeln. Von Virologen, Epidemiologen und Politikern über Wirtschaftsexperten und Verfassungsrechtlern, dazu Psychologen, Soziologen bis hin zu Gewerkschaftsvertretern haben alle eine Meinung, meist Ratschläge, wenn nicht Verhaltensregeln oder Verbote zu verkünden. Selbst seriösen Medien fällt es zunehmend schwer ob der schieren Auswahl zwischen sinnvollen und Angst auslösenden Beiträgen zu differenzieren.
Um zur Ruhe zu kommen hilft mir nur noch der Notausgang: So werde ich zumindest den Rest des heutigen Sonntags unplugged verbringen. Mit einem dicken Roman, einem Becher dampfend heißen Kaffee und danach einem Glas trockenen Rotwein.

https://www.fr.de/wissen/corona-krise-zwischen-ferien-alltag-vorhoelle-stephan-gruenewald-gespraech-13637661.html

 

Last modified: 4. April 2020

    × schließen