Elegante Zurückhaltung war vor der Viruszeit. Jetzt brauche ich Farbe.
Heute Morgen kramte ich im Schuhschrank. In der hinteren Ecke fristeten meine hellroten Chucks schon lange ein trauriges Dasein. Das war vor Corona. Nun stehen sie im Flur und warten darauf ausgeführt zu werden. Gestern kauften wir im Supermarkt ein. Mein Partner schaute skeptisch, als ich lichtgrüne Servietten an der Kasse aufs Band packte. Als später in der Drogerie Kerzen in Dottergelb und Orange im Einkaufswagen lagen, fragte er, ob das mein Ernst sei. Ja, genau die müssten es sein, ich bräuchte dringend ganz, ganz viel Farbe, klärte ich ihn über diese meine Ausnahmesituation auf. Den Gipfel erreichte mein Verlangen nach Buntem definitiv in Form eines blauen Nagellacks, den ich demonstrativ neben den Kerzen platzierte.
Die Existenz der roten Schuhe hatte ich vergessen. Kerzen gibt es in der Wohnung in klassischem Rot während des Advents, ansonsten in neutralem Cremeweiß. Servietten benutzen wir ohnehin höchst selten und dann farblich abgestimmt auf die Kerzen. Und blauen Lack trug ich zuletzt in meinen Twenties auf den Nägeln.
Die Lust auf leuchtend bunte Töne fühle ich erst seit Kurzem. Normalerweise liefert der Lippenstift die prominenteste Farbe meines Stylings. Der Rest ist unspektakuläres Jeansblau oder Schwarz. Doch nun ist in unserem Leben so vieles anders als bisher. Wir stellen uns auf Veränderungen ein und unsere üblichen Gewohnheiten um. Sogar Anna Wintour, die Chefredakteurin der US Vogue, trägt neuerdings im Homeoffice eine stylische Jogginghose zu farblich abgestimmtem Pulli und dezentem Make-up.
Allein die Hose sei bereits eine Sensation, aber zuhause Make-up auflegen? Das sei unglaubwürdig, mosern ein paar zwanghaft Kritische. Das ist blödes Geschwafel. Sollen wir alle aussehen wie zottelige Schafe kurz vor dem Eindösen? Die Modebloggerin Leandra Medine Cohen meint, wann, wenn nicht während der Quarantäne könne man Kombinationen tragen, in denen man sich sonst nicht auf die Straße traue. Lange vor der Coronapandemie prophezeite im Übrigen die Trendforscherin Li Edelkoort „ein Jahrhundert des Handwerks und der DIY-Attitüde“. Bescheidener auftreten, Altes auf Vordermann bringen und sein Leben neu definieren, steht uns demnach in dieser Zeit gut an. Da fällt mir ein, ich besaß vor Jahren ein paar Sneaker in Knallpink. Sind die längst entsorgt oder stehen die etwa auch noch im Schrank? Einen passenden Lippenstift finde ich auf jeden Fall im Bad.
Last modified: 18. April 2020