Die Natur gibt sich unbeeindruckt von der Pandemie. Sie feiert den Frühling.
Karli ist wieder da. Unerwartet tauchte er vor zwei Tagen auf. Es war schon dunkel draußen, wir saßen gerade beim Abendessen. Die Teller waren bereits geleert, ich lehnte mich mit meinem Glas Rotwein in der Hand im Stuhl zurück, um den Abend in Ruhe ausklingen zu lassen, da sah ich ihn. Er saß regungslos am Fenster, offenbar beobachtete er uns. Vermutlich wollte er abwarten, bis wir die Mahlzeit beendet haben würden. Das ist typisch für ihn, unseren stillen, so höflichen Gast.
Karli ist ein Marienkäfer. Im vergangenen Jahr besuchte er uns zum ersten Mal. Als ich eines Abends im Bett lag, entdeckte ich ihn zufällig. Er saß am Rahmen des geöffneten Fensters. Ich bat ihn herein. Er flog zur Zimmerdecke, wanderte dort umher. Als ich das Licht löschte, hatte er sich in eine Ecke gesetzt und schien zu schlummern. Ich wünschte ihm eine gute Nacht. Am nächsten Morgen war er fort. Um am Abend pünktlich zurückzukehren, sobald wir uns ins Bett begaben. Von da an kam er nahezu täglich zu Besuch, startete jedoch morgens sehr früh zu seinem Tagwerk. Tagsüber hatte er draußen zu tun, nachts schlief er bei uns. Im Herbst schaute er nur noch sporadisch vorbei und irgendwann war er endgültig fort.
Doch nun ist er offenbar zurück. Da das Fenster des Esszimmers geschlossen war, konnte er vor zwei Tagen nicht in die Wohnung. Ich vermute, er bezog in einem der Gärten in der Nachbarschaft Quartier, denn als ich später das Fenster öffnete, sah ich ihn nicht. Jetzt warte ich darauf, eines Abends im Bett zu liegen, an die Decke zu schauen und ihn sitzen zu sehen. Mit unserem Käferfreund Karli schiebt sich nach all den Wochen Pandemiekrise endlich der Frühling in mein Bewusstsein. Den April habe ich neben den Nachrichten zum Thema C. verpasst. Jetzt ist es Mai und ich erlaube mir, C. ganz weit nach hinten auf meiner Interessenskala zu schieben. Egoistisch? Who cares?
Last modified: 9. Mai 2020