Sobald die Pandemie überstanden ist, muss ich auf Entzug.
Gäbe es eine psychiatrische Krankenakte von mir, wäre darin die Diagnose Polytoxikomanie (dt. Mehrfachsucht) verzeichnet. Zu meiner unheilbaren Leidenschaft für Lippenstifte kommt seit Neuestem die Spielsucht hinzu. Seit die Stadt nur noch zum Arbeiten und Einkaufen offen ist und Abende vor dem Fernseher stinklangweilig sind, haben wir eine Passion entdeckt, die wir mit vielen Menschen teilen: Wir spielen. Die Kiste mit den Gesellschaftsspielen mussten wir suchen. Sie fristete bis zum ersten Lockdown ein einsames Dasein am Boden einer Schublade. Seit dem erneuten Lockdown „light“, der sich abends jedoch genauso anfühlt wie der erste „harte“ Lockdown, sind wir zur Hochform aufgelaufen. Nach dem Abendessen wird der Tisch in Windeseile abgeräumt, die Rotweingläser nachgefüllt und dann sitzen wir bereit. Bei den Brettspielen und beim Würfeln waren die Siegchancen relativ gut verteilt. Will sagen, mein Partner ging häufiger grinsend, weil siegreich zu Bett. Nicht so beim Kartenspiel. Da triumphiere ich. Was zur Folge hat, dass ich jetzt die Schachtel mit den Karten schon bereithalte, sobald mein Partner die Weinflasche aus der Küche holt. Ich will grinsend zu Bett gehen, will unbedingt gewinnen. Was hat die Pandemie nur aus mir gemacht? In meinem bisherigen Leben spielte ich gerne mit der Familie oder mit Freunden. Während dieser öden Lockdown-Wochen zeige ich aber ein eindeutiges Suchtverhalten. Also warte ich nicht nur sehnsüchtig darauf, dass ich irgendwann in ferner Zukunft zu der Gruppe gehöre, die sich impfen lassen kann. Darüber hinaus, so steht zu befürchten, werde ich mich um einen Therapieplatz kümmern müssen. Von der Lippenstiftsucht kann ich mich nicht mehr befreien. Für die Kartenspielsucht besteht dagegen noch Hoffnung auf Heilung, sobald ich die Abende wieder im Kino, Theater oder im Jazzclub verbringen kann.
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Last modified: 8. Dezember 2020