Physical Distancing, nicht aber Social Distancing.
Die Menschen seien offensichtlich unfreundlicher als vor der Pandemie, meint mein Nachbar. Im Supermarkt meckert ihn eine Frau an, weil er am Gemüseregal angeblich zu wenig Abstand halte. Auf den Gehwegen muss er immer ausweichen, die ihm entgegenkommenden Leute sind unachtsam. Und überhaupt seien zu viele Menschen unterwegs. So oder ähnlich lauten seine Klagen. Was soll ich sagen? Mein Partner und ich kommen mit ihm gut aus. Wir laden ihn schon mal an unseren Tisch ein, wenn wir uns in unserem gemeinsamen Stammlokal sehen. Der Mann lebt allein, hat weder Familie noch Freunde, so erzählte uns der Wirt. Er ist ein gebildeter, sehr belesener Gesprächspartner, der stets einen Tipp für interessante Artikel oder Bücher parat hält. Aber er ist ein Eigenbrötler, der selten lächelt, der redet, ohne Luft zu holen. Dialoge kommen nur zustande, wenn man aufmerksam ist für eine Lücke, in die man grätschen kann, um die eigene Meinung anbringen zu können. Ansonsten würde man lediglich Monologen folgen.
Als ich ihn kurz vor Ende des ersten Lockdowns traf, gestand er, er fühle sich jetzt doch allmählich einsam. Bücher sind eben auf Dauer kein Ersatz für Kontakte mit anderen Menschen. Wie er sich nun zu Weihnachten, im zweiten Lockdown fühlen wird, kann ich nur ahnen. Ich wünsche ihm jedenfalls, er möge nicht vor allem mürrische Mitmenschen wahrnehmen. Es ist natürlich nur meine subjektive Erfahrung in den Monaten der Pandemie, doch ich erlebe jetzt wesentlich häufiger ein Lächeln im Supermarkt, ein kurzes „Sorry“, wenn man das Gefühl hat, jemandem zu nahe zu kommen oder den Wunsch „Passen sie auf sich auf“.
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-einsamkeit-weihnachten-100.html
Last modified: 15. Dezember 2020