Deborah Feldman: Unorthodox
„Wenn irgendwer jemals versuchen sollte, Dir vorzuschreiben, etwas zu sein, was Du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch Du den Mut findest, lautstark dagegen anzugehen“, schreibt Deborah Feldman am Ende des Epilogs zur deutschsprachigen Ausgabe ihres autobiografischen Bestsellers.
Die 1986 in New York geborene Autorin beschreibt in ihrem ersten Buch ihren Ausstieg aus der Gemeinde der Satmarer Chassidim. In Williamsburg, einem Teil des New Yorker Stadtteils Brooklyn, lebt die ultraorthodoxe jüdische Gemeinschaft der Satmar nahezu abgeschirmt von allen säkularen Verlockungen. Während sich die Männer vor allem dem religiösen Studium widmen, ist der Platz der Frau im Haus. Ihre Aufgabe ist es, Kinder zu gebären. Durchschnittlich sieben Kinder hat eine Satmar-Familie. Es wird ausschließlich Jiddisch gesprochen, weltliche Bildung ist untersagt, der Stadtteil wird nur in Ausnahmesituationen verlassen. Säkulare Freuden wie Kino, Radio, Fernsehen und selbst weltliche Literatur sind streng verboten. Nur der Glaube und Gottes Wort zählt.
In dieser engen, einer Sekte ähnlichen Welt wuchs Feldman in der für Mädchen üblichen Art auf. Ihr Weg war von Geburt an vorgezeichnet: Wenige Jahre Bildung in einer religiösen Schule, arrangierte Heirat mit siebzehn, Mutter mit neunzehn. Als Mädchen hat sie den Kopf zu senken und den Gehweg zu verlassen, wenn ihr ein Mann entgegenkommt. Nach der Heirat verschwindet ihr Haar unter einer Perücke. Sie wird ihr Leben lang unsichtbar bleiben, so will es der Glaube der Satmarer Chassidim. Lebensfreude ist ein Tabu.
Doch Deborah Feldman durchbricht schon als Mädchen die sie umgebende Mauer aus Bigotterie und Unbildung. Heimlich besorgt sie sich Literaturklassiker, träumt sich mit mittels Stolz und Vorurteil in ihre eigene Welt. Ihr wird zunehmend bewusst, dass sie die einengende Welt Williamsburgs verlassen muss, um ihr Leben tatsächlich leben zu können. Das gelingt ihr schließlich mit Anfang zwanzig, nach der Geburt ihres Sohnes. Sie flieht mit ihm in die Freiheit, taucht zunächst in Manhattan unter, wo ein Verlag auf ihren Blog aufmerksam wird, in dem sie ihr Leben als chassidische Satmar schildert. Ihre Flucht schreibt sie in Unorthodox nieder, das Buch landet sofort auf den Bestsellerlisten. Inzwischen ist Feldman geschieden und lebt mit ihrem Sohn in Berlin.
Dies ist lediglich eine grobe Zusammenfassung des Buchinhaltes. Und es ist klar ersichtlich auch keine Rezension. Derer gab es sehr viele, seit die deutsche Ausgabe im Frühjahr 2016 erschienen ist (z.B. http://www.zeit.de/2016/27/deborah-feldman-berlin-afd ). Feldman erzählte ihre Geschichte zudem in zahlreichen Talkshows und Zeitungsinterviews.
Unorthodox, Deborah Feldman, Secession Verlag für Literatur
Nach der Lektüre
Was veranlasst mich, dieses Buch zu erwähnen? Auf Mein blauer Lippenstift beabsichtige ich ganz sicher nicht über Religion zu schreiben. Obwohl es in allen Religionen, dem Protestantismus oder Katholizismus ebenso wie im Islam oder Judentum eine mehr oder minder ausgeprägte, mehr oder minder erkennbare oder verdeckte Form der Benachteiligung der Frau gibt. Noch im Jahr 2016 drehen sich bei diesem Thema die Mühlen extrem langsam, mancherorts leider auch rückwärts anstatt nach vorne.
Aber: Religion, selbst in der frömmlerischen und aggressiven Art einer Sekte, ist es nicht, was mich bewegt nach der Lektüre von Deborah Feldmans Buch. Obwohl, auch das ist mir klar, im Namen Gottes, Allahs oder in wessen Namen auch immer (immer eines Mannes, natürlich!) Frauen benachteiligt werden. Industriebosse sind dabei aber nicht etwa aus diesem Statement ausgenommen. Ihre nach wie vor bestens funktionierenden Seilschaften zähle ich jetzt der Einfachheit halber zu den nichtreligiösen Sekten.
Wie gesagt, das hier ist keine Rezension. Ich notiere lediglich einige Gedanken, die sich nach Beendigung der Lektüre in mein Bewusstsein schieben. Worum geht es in Lebensläufen wie dem beschriebenen? Um Macht und Bildung. Wobei Bildung der Schlüssel zur Macht, in diesem Fall zum Aufbruch aus einem ungeliebten Leben ist. Ein Beispiel für viele dieser Art, die jedoch selten so große Popularität erlangen wie Feldmans Geschichte.
Was mich am meisten beschäftigt: Weshalb bleiben Frauen in diesen Lebensumständen passiv? Weshalb bricht im Jahr 2010 (dem Jahr, als Feldman mit ihrem Kind ihr bisheriges Leben verließ) die Generation der Mütter und Tanten nicht aus? Wieso entsteht in diesen Gesellschaften keine Solidarität unter Frauen, unterstützt Frau nicht Frau? Erschöpft sich die soziale Pflicht im Gehorsam gegenüber Mann und Gott? Andererseits können Veränderungen nur gelingen, wenn sie „von innen“ passieren. Zumindest in einem Umfeld, das nicht in erster Linie von körperlicher Gewalt geprägt ist, sollte dies möglich sein. Fehlt diesen Frauen nur der Mut oder haben sie tatsächlich verinnerlicht, Menschen zweiter Klasse zu sein? Im Jahr 16 des dritten Jahrtausends. Zumindest in der hoch entwickelten westlichen Welt sollten weder ungleiche Bezahlung und schlechtere Bedingungen im Beruf noch ein Thema sein. Von Frauen ohne Chancen auf Bildung und degradiert zur Gebärmaschine ganz zu schweigen. Am Ende dient jedoch alles der Machterhaltung der männlichen Gesellschaft. Daran ändert bislang weder eine deutsche Kanzlerin noch eine britische Premierministerin noch eine mögliche zukünftige US-Präsidentin etwas Nennenswertes.
Deborah Feldmans Weg ist exemplarisch für den Versuch, mutig ihren Weg zu gehen, der ihr nicht vorgezeichnet war. Ich wünsche mir, dass sie und andere Frauen ihre Geschichte erzählen und damit so viele Frauen wie möglich erreichen. Ein Wort zu den Rezensionen scheint mir allerdings zu meinen Überlegungen zu passen: „Wäre diese Selbstmythisierung etwas bescheidener ausgefallen, so wäre das Buch umso lesenswerter geworden“, schreibt der Rezensent über die Autorin Feldman (http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=21830 ). Diese Aussage veranlasst mich zu einer zugegebenermaßen polemischen Feststellung: Nimm Dich nicht so wichtig, Frau. Selbst wenn Du über Dein wenig berauschendes Leben zweiter Klasse sprichst. Ich hoffe, viel mehr junge Frauen setzen sich über diese hohlen Phrasen hinweg. Wenn es ihre Mütter und Tanten schon nicht tun.
Last modified: 28. September 2016