Hinfallen gehört zu meinem Leben. Immer wieder bin ich hingefallen, manchmal war es nur ein heftiges Stolpern, ich fing mich in letzter Sekunde und verhinderte den Sturz. Wenn ich hinfiel, blieb ich kurz liegen, um meine Wunden zu lecken. Diese Phase dauerte nie besonders lange. Manchmal musste ich erst mühsam neuen Mut fassen, machte mich dann aber doch erneut auf den Weg, getreu dem oft gehörten Rat „Hinfallen, aufstehen, Schmutz abklopfen, Krone richten und weitergehen“.
Nach jedem Sturz bleiben Narben, die man jedoch – hört man auf die Erfolgsrezepte von Business Coaches – gefälligst zu übersehen hat. Es gibt eine schier unendliche Zahl von Ratgeberbüchern, die dabei helfen sollen, das Selbstbewusstsein nach einer Krise möglichst umgehend wieder aufzubauen. Denn jeder Absturz bedeutet eine Krise, von kleinerem oder von größerem Ausmaß, beruflicher und/oder privater Natur, finanziell, gesellschaftlich, psychisch oder physisch.
Ist es tatsächlich sinnvoll, möglichst sofort aufzustehen, den Schmutz abzuschütteln, die Krone gerade zu rücken und erhobenen Hauptes den Weg fortzusetzen? Ist man ein Verlierer, wenn man eine Weile liegen bleibt, sich bedauert, seine Wunden leckt und erst ganz allmählich den Mut fasst aufzustehen? Während die Welt sich in rasanter Geschwindigkeit weiterdreht, und die ewigen Erfolgsmenschen über den Gefallenen mit mitleidigem oder unwirschem Blick hinwegsteigen, ihn desinteressiert hinter sich lassen.
Schnell wieder auf die Beine kommen und weitermarschieren scheint im Verständnis von Erfolgsmenschen die einzige Möglichkeit, um den Anschluss zu halten. Und das bitte ohne Gejammer, so lautet ihre Message. Entscheidend ist es demnach, auf keinen Fall den bereits vorhandenen oder den fokussierten Erfolg aus den Händen gleiten zu lassen. Der könnte schließlich für immer verloren sein.
Man achte auf den Konjunktiv. Denn Zweifel sind unangebracht. „Wer A sagt …“ „Wer sich einmal für einen Weg entschieden hat …“
Diese sinnentleerten Phrasen mag ich nicht einmal zu Ende schreiben.
Basecap statt Kronjuwelen
Was wäre, wenn ich aufstünde, mich schüttelte, meine Krone richtete und nicht auf dem gleichen Weg weitergehen würde? Oder die Krone absetzte und mir einen passenderen Kopfputz suchte? Das sind die zentralen Fragen! Dazu bedarf es zweier Vorbemerkungen: Zum einen ist es mir heute egal, wie andere mich sehen, wenn ich erst mal liegen bleibe. Sie mögen mich für zu schwach, zu weich, zu wenig erfolgsorientiert halten oder befinden, dass ich Problemen ausweiche. Geschenkt! Der zweite wichtige Punkt: Mit den Jahren habe ich mir meine höchst subjektive Lösungsstrategie erarbeitet, wie ich mich in Krisensituationen verhalte. Diese Lösungsansätze beanspruchen aber weder psychologisch fundierte Korrektheit, noch will ich sie als allgemeingültigen Rat verstanden wissen.
Irgendwann wurde mir klar, ich hinterfrage nach meinen Stürzen die Gründe nicht oder nur sehr oberflächlich. Ich stand einfach auf und ging weiter. Genauer betrachtet hatte ich die Gründe und Umstände konsequent ignoriert, die ich längst vor dem Sturz hätte ändern müssen. In Bezug auf meinen Beruf beispielsweise bedeutete das, ich wollte mich seit Jahren neu orientieren, mich wieder auf die Suche begeben, schauen, was ich arbeiten kann und möchte. Was wäre, wenn ich dies tun würde, fragte ich mich, nachdem ich wieder einmal hingestürzt war. Und so blieb ich zum ersten Mal liegen, ergab mich eine unbestimmte Zeit meinem Schicksal. Trauerte, lenkte mich ab, wartete. Als ich ungefähr die Wegrichtung ausgemacht hatte, in die ich aufbrechen wollte, lief ich zunächst zaghaft, auf etwas wackligen Beinen los.
Übersetzt in den Berufsmodus heißt das, erst mal gründlich überlegen, dann einen vielleicht bewusst noch vagen Entschluss fassen, in welche Richtung man gehen will. Danach folgt die (wackelige Beine) Phase der Recherche, des Sammelns von Informationen. Man konzentriert sich auf seinen Gang, achtet darauf, nicht zu stolpern. Will heißen, man probiert vorsichtig aus, ob die angepeilte Richtung passt. Mit der Übung kommt dann letztlich die Laufsicherheit zurück. In meinem Fall hieß das, ich hatte meinen Beruf zwar nicht aufgegeben, doch die Inhalte und Rahmenbedingungen völlig verändert. Ich war meinem lange gehegten und immer wieder verdrängten Wunsch nach Veränderung endlich gefolgt.
Sinnvolle Unterstützung
Es gibt allerdings auch durchaus kluge Strategieansätze professioneller Ratgeber, siehe z.B.*. Auch das muss gesagt werden. Und manchmal ist der Tipp eines lebenserfahrenen Menschen mindestens ebenso wertvoll, wenn man feststeckt oder am Boden liegt. Zum Beispiel der Tipp, sich die Wunden bewusst (vielleicht sogar mit Genuss?) zu lecken, sich selbst eine Auszeit zu genehmigen. Und die Krone zumindest für die Zeit des Reflektierens an den Kleiderhaken zu hängen, anstatt sie lediglich auf dem Kopf zurechtzurücken.
Eine Horrorvorstellung für soziopathische Machtmenschen. Nicht-lineare Lebensläufe sind in Deutschland ja nach wie vor nicht die Regel, gelten manchem Zeitgenossen noch immer als suspekt. Kein Wunder also, dass die Angst groß ist, den einmal eingeschlagenen Weg zu hinterfragen oder ihn sogar zu verlassen.
Niemand ist davor geschützt, es passiert oft ohne Vorwarnung: Wir stolpern, versuchen überrascht und ängstlich die Balance zu halten. Der Sturz zu Boden ist dennoch nicht zu verhindern.
Mein Umgang mit meinen Stürzen ist keineswegs spektakulär oder besonders originell. Was ich mache, wenn ich hingefallen bin? Ich hole vor allem nie wieder Sätze aus der Kindheit hervor, siehe oben („Wer A sagt …“). Die habe ich für immer eingemottet. Und die Krone habe ich abgenommen und durch eine beerenrote Schleife ersetzt. Manchmal setze ich auch einen Zauberhut oder einen Feuerwehrhelm auf oder stülpe mir eine Basecap über.
* Ratgeber Resilienz, Prof. Dr. Jutta Heller, Gräfe und Unzer Verlag
Meine aktuelle Schreibstimmung: Da hängt sie am Haken, die Krone. Ich schaue sie mir an und erinnere mich daran, wie schwer sie auf meinem Kopf lastete.
Der Lippenstift: „Rose Praline“ von Clarins
Last modified: 9. November 2016