Wir sollen Distanz halten zu anderen Menschen. Das führt zur Entfremdung.
Mund-Nasen-Schutz tragen, Abstand halten, große Menschenansammlungen meiden. So lautet nun seit Monaten die Ansage von Virologen und Politikern. Auch wenn diese Regeln aufgrund der Gefahr durch das Virus nötig sind, ist inzwischen eine Veränderung in der Bevölkerung zu erkennen, die mich beunruhigt: Die Menschen sind skeptischer anderen gegenüber, bisweilen sogar hemmungslos aggressiv.
Vor einigen Tagen ertappte ich mich bei einem Besuch im Café, als ich während des Schreibens innehielt, um an den Nachbartisch zu schauen. Dort saß eine junge Frau, die eben nieste. In die Armbeuge, wie angeraten, was belanglos und keines Blickes wert ist. Doch jetzt sind die Regeln offenbar neu aufgestellt. Ich sah die Frau an und bildete mir doch glatt ein, sie verziehe beim Schlucken schmerzhaft das Gesicht. So ein Unsinn, ich bin anscheinend total irre, schalt ich mich. Ich schrieb weiter. Zurück blieb jedoch auf einer Nebenspur meiner Gedanken diese kleine Episode.
Die Monate der Pandemie haben unsere Sinne geschärft. Wir sehen und hören differenzierter, was um uns herum passiert. Es scheint also eine logische Entwicklung, unseren Mitmenschen mit mehr Skepsis zu begegnen. Das führt allerdings zu Situationen, die ich als befremdlich erlebe. Die Nachbarin, die mit gesenktem Kopf grüßt, während sie in extrem weitem Bogen den anderen Hausbewohnern ausweicht. Die Radiowerbung der Stadt München, in der Touristen ins Museum oder in den Biergarten eingeladen und am Ende des Spots darauf aufmerksam gemacht zu werden, all das sei „natürlich mit Abstand“ zu haben. Und dann der Redakteur einer Berliner Tageszeitung, der Bürgern, die in öffentlichen Verkehrsmitteln keine Maske tragen, den Satz entgegenschleudert „Maskenverweigerer, ich verachte euch zutiefst.“ Ich weiß nicht, ob es mangelnde Professionalität, sehr tief sitzende Angst oder schlicht der Versuch ist, seinen Bekanntheitsgrad zu steigern. Es ist eine in einen Kommentar verpackte Hassbotschaft, die zur weiteren Entfremdung der Menschen führt.
Die genannten Beispiele treffen und verunsichern mich gleichermaßen. Die Pandemie darf nicht dazu führen, unser Misstrauen zu stärken und Feindbilder aufzubauen. Wir müssen uns der Realität stellen: Dieses Virus wird Teil unseres Lebens bleiben. Wenn wir verhindern wollen, dass die Gesellschaft auseinanderbricht, müssen wir alle daran arbeiten, unserer Angst so viel wie nötig, aber auch so wenig wie möglich Raum zu bieten. Argwohn und Hass werden sonst zu Selbstläufern.
https://www.nzz.ch/feuilleton/niall-ferguson-wie-das-coronavirus-unsere-welt-veraendert-ld.1555945
Last modified: 1. Juli 2020