Lobe dich selbst, tue dir etwas Gutes, hebe dein Selbstwertgefühl, raten Coaches und Psychologen den Frauen. Ist es tatsächlich so einfach, eine starke Frau zu sein?
Fängt das Jahr gut an, wenn ich mich schon in den ersten Tagen entschließe, mein Büro zu putzen? Die Antwort dürfte individuell ausfallen und ist außerdem überhaupt nicht relevant.
Es blieb sowieso beim ehrenhaften Vorhaben. Als ich die Fachliteratur aus dem Regal nahm, um mit dem Staubwischen zu beginnen, schaute ich mir die einzelnen Titel an. Das war aus putzpädagogischer Sicht ein Fehler, denn ich blieb, wie vorhersehbar, bei einem Buch hängen. Psychologen dürften für diese Situation mutmaßlich folgende Erklärung finden: Ich wollte gar nicht putzen, dachte jedoch ich müsse es tun. Deshalb schwang ich nicht den Staubwedel, sondern schaute mir die Bücher an, blätterte da und dort rein, ließ mich von einem Titel fesseln.
Kenne ich dieses Buch? Seit wann steht es in meiner Bücherwand? Was war noch mal der Inhalt? Der Staubwedel lag zu dieser Zeit bereits auf dem Boden. So dreckig waren die Möbel ja nun wirklich nicht. Wozu überhaupt der übertriebene Putzdrang? Es gibt doch wahrlich Wichtigeres, als im eben begonnenen Jahr meine wertvolle Zeit mit Hausarbeit zu vertrödeln.
Ob sich ein Buch „einfach so“ ins Blickfeld schiebt, ist sicher eine Glaubensfrage. Die 10 Gebote für starke Frauen von Ursula Nuber (Fischer Taschenbuch Verlag) hatten Jahre unbeachtet zwischen anderen Fachbüchern verbracht. Sie wurden bisweilen abgestaubt, wanderten aber nicht auf den Wieder-einmal-lesen-Stapel. Bis vorgestern. Da schaffte der schmale Ratgeber der Psychologin und Autorin ad hoc den Sprung in die erste Reihe. Keine Wartezeit auf einem Stapel, stattdessen sofortige Beschäftigung mit seinem Inhalt.
Sind Frauen stark? Stark, aber nicht gleichberechtigt? Stark, aber potenzielle Ziele sexueller Belästigung? Stark, aber zum Gehorsam und unter Schleier gezwungen? Stark, aber als Emanzen beschimpft, sobald sie ihre Meinung deutlich vernehmbar äußern? Stark, aber in der Kritik, sobald sie ihre Rechte einfordern?
Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht hier nicht um Frauen, die ausgebeutet, misshandelt, versklavt oder zur Prostitution gezwungen werden. Diese Frauen zu ermuntern, Stärke zu zeigen, ist Hohn. Sie benötigen keine Ratschläge, sondern aktive Hilfe. Ich rede von uns Frauen in der westlichen Welt. Wir leben in Freiheit, allein, in einer Partnerschaft oder mit Familie, wir sind berufstätig und aktiv. Dennoch eint uns das Gefühl nicht so durchsetzungsfähig und stark zu sein, wie wir es uns insgeheim wünschen.
Ursula Nuber benennt als Ursache für die mangelnde Stärke von Frauen ihr wenig ausgeprägtes, bisweilen auch verkümmertes Selbstwertgefühl. Ihre 10 Gebote sind weder revolutionär noch neu. Sie können allerdings helfen, gelegentlich den eigenen Status quo zu überprüfen. Ich ließ also vor zwei Tagen den Staubwedel zurück, verzog mich in ein anderes Zimmer und spielte ein kleines Gedankenspiel: Bin ich stark?
1. Gebot: Du sollst stolz auf dich sein.
Welche fünf positiven Eigenschaften und Qualitäten schätze ich an mir? Diese Miniliste sollte man nicht nur aufschreiben (schwer!), sondern danach vor dem Spiegel aufsagen (wie bitte?). Es ist keineswegs das erste Mal, dass ich diese Aufgabe erfüllen soll. Bei Vorstellungsgesprächen, beim Coaching und in Seminaren habe ich in mich „hineingehorcht“, um meine positiven Eigenschaften zu finden. Um es kurz zu machen: Es ist jedes Mal eine Herausforderung, fünf Punkte auf den Zettel zu bekommen. Bin ich nur zu bescheiden oder ist mein Selbstwertgefühl zu mager?
2. Gebot: Du sollst Grenzen setzen.
Sind Geben und Nehmen im Gleichgewicht? Auch beim zweiten Gebot komme ich zu einem wenig erhebenden Ergebnis: Ich gebe Anderen oft zu viel Raum. Lasse zum Beispiel die Freundin stundenlang von ihren Problemen reden, wobei sie es nicht für nötig erachtet, sich zu erkundigen, wie es mir geht.
3. Gebot: Du sollst Nachsicht mit dir haben.
Wie fühle ich mich, wenn ich scheinbar perfekten Menschen begegne? Der erste positive Punkt für mich, hier habe ich dazugelernt. Wer sich als Alleskönner geriert, von seinen (ihren) Fähigkeiten, Taten und Erfolgen prahlt, selbstverständlich jung, fit und schön ist, nervt mich nach kurzer Zeit. Zumindest im Privatleben gilt meine Devise: Meine Zeit ist zu kostbar, um mich mit solchen selbstverliebten Nabelbeschauern zu langweilen.
4. Gebot: Du sollst nicht ständig ein schlechtes Gewissen haben.
„Das schlechte Gewissen ist die Schwester der Perfektion“, sagt Ursula Nuber. Was bedeutet, einmal mehr auf seine Wortwahl zu achten. Sage ich eher „ich sollte“ statt „ich will“? Jedes „sollte“ verpasst mir einen Hieb mit der Perfektionspeitsche.
5. Gebot: Du sollst Verantwortung für dein Leben übernehmen.
Verantwortung an Andere abzugeben ist verlockend, wenn auch wenig hilfreich. Leider ist bei diesem Gebot ein Geständnis fällig: Mag sein, es gibt Autoren, die es lieben, sich mit Gelddingen zu befassen. Ich gehöre nicht zu ihnen. Wann immer möglich, drücke ich mich vor Arbeiten rund im die Finanzen. Laut Nuber gebe ich folglich einen Teil der Verantwortung für mein Leben aus Desinteresse am Thema ab.
6. Gebot: Du sollst nicht alles persönlich nehmen.
Bitte etwas mehr Distanz halten! Nicht jede Unfreundlichkeit eines Anderen hat mit mir zu tun. Inzwischen schaffe ich es, das säuerliche Gesicht der Kassiererin oder den scheinbar unfreundlichen Blick des Nachbarn nicht sofort auf mich (und meine Unzulänglichkeit) zu beziehen. Die aufkommenden Selbstzweifel entlarve ich schneller als früher.
7. Gebot: Du sollst klar und deutlich deine Meinung äußern.
Das funktioniert. Zumindest meistens. Ab und an zeigt sich aber noch das brave Mädchen, das es mit niemandem verderben möchte, obwohl mir schon lange bewusst ist, dass ich nicht von jedem Menschen geliebt werden will.
8. Gebot: Du sollst dich mit deinen Stärken und Schwächen akzeptieren.
„Hören Sie auf, sich Sorgen um Ihr Aussehen zu machen“, rät die Autorin. „Studien ergaben, dass Menschen wesentlich weniger auf das Aussehen anderer achten als auf Ihr eigenes. Wir sind mit uns selbst beschäftigt.“ Eine zugegebenermaßen schwierig umzusetzende Empfehlung für eine ehemalige Beautyjournalistin. Aber ich arbeite ständig daran.
9. Gebot: Du sollst deinem Erfolg nicht selbst im Weg stehen.
Das wohl der Mehrheit aller Frauen bekannte Problem der Selbstsabotage. Furcht vor Erfolg ist vor allem ein weibliches Problem. Wir sind Meisterinnen darin, unsere Fähigkeiten unterzubewerten, um damit mögliche Erfolge zu boykottieren. In diesem Feld können wir von Männern lernen. Ich frage mich, wie alt ich werden muss, um diese Disziplin endlich zu beherrschen.
10. Gebot: Du sollst auch dir selbst Gutes tun.
Hinter Gebot Nummer zehn steht auf meiner Liste ein dicker Haken. Ja, ich sorge für meine körperliche (Yoga) und seelische (Yoga, Schreiben, Lesen) Gesundheit. Es gibt immer weniger Tage, an denen ich nicht „im Gleichgewicht“ bin. Glücklicherweise, denke ich mit Blick auf die Gebote eins bis neun.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Wenn ich das Ergebnis meiner Introspektion sehe, wird mir klar, wie subjektiv das Gefühl doch ist, eine starke Frau zu sein.
Der Lippenstift: „Harlow Red“ von Bobbi Brown
Last modified: 11. Januar 2018