Mira Magén: Zu blaue Augen
Hannah ist alt, starrsinnig und offensichtlich verrückt. Bis Bruno in ihr Leben tritt.
Wenn sich eine Siebenundsiebzigjährige die Haare pechschwarz färbt, grellbunte Kleider trägt und nachts in Bars betrinkt, ist das nicht nur unerhört, sondern eindeutig ein Zeichen von Altersdemenz. Diese Diagnose stellen die drei erwachsenen Töchter von Hannah Jona. Gemeinsam mit der Mutter und deren aus Rumänien stammenden Pflegerin Johanna leben sie in Hannahs Haus in Jerusalem. Komplettiert wird die Frauengemeinschaft von Enkelin Dana und ihrem Kaninchen Herzl. Was die Töchter allenfalls ahnen: Ihre Mutter spielt die Demenzkranke, um die Sozialversicherung zu betrügen. Wie sonst soll sie es schaffen, dass ihre ebenso treue wie gottesfürchtige Pflegerin weiter bei ihr bleiben kann. Sie ist ihre einzige Vertraute, von den Töchtern fühlt sie sich längst entfremdet, die Enkelin erscheint ihr als rätselhaftes Geschöpf.
Während die Töchter planen, das Elternhaus zu verlassen, nistet sich der dubiose Dichter Rafi als Untermieter ein. Er soll der Seniorin den Verkauf des Hauses schmackhaft machen, denn sie ist die einzige Hauseigentümerin, die, umgeben von Baukränen und beäugt von Gentrifizierungshaien, nicht gewillt ist, das Haus zu verlassen, das ihr verstorbener Mann zwei Tage vor seinem Tod gekauft hatte.
Als Hannah während eines Besuches in Tel Aviv Bruno kennenlernt, einige Jahre älter als sie, fürsorglich und ein wahrer Gentleman, verlieben sich die beiden ineinander. Doch dann wird eine Erkrankung zur Zäsur in ihrem bislang eher ereignislosen Leben. Sie stellt Hannah vor die Entscheidung, ihr bisheriges Spiel aufzugeben. Sie wird aufhören, die verrückte Alte zu mimen, will sich den Schwierigkeiten mit den Sozialbehörden stellen. Und sie wird auch optisch die wahre Hannah Jona zeigen: Weißer Flaum auf dem Kopf statt schwarzer Mähne, keine übertriebene Schminke noch schwindelerregend hohe Schuhe oder mit grellgelben Butterblumen bedruckte wallende Röcke mehr. Die Zuneigung zu Bruno gibt ihr neuen Kampfesmut, für den Verbleib von Johanna an ihrer Seite wie gegen die Hausspekulanten. Diese unerwartet späte Liebe bringt die Romantik in ihr Leben zurück. Allein ihre so typisch weiblichen Selbstzweifel vermag Hannah kaum zu überwinden.
Zu blaue Augen, Mira Magén, dtv Verlag
Nach der Lektüre
Mira Magén vereint in Zu blaue Augen Themen wie Gentrifizierung, Beziehungsprobleme in der Familie, Zweifel an der Religion oder die Angst vor Denunziation. Die vielfach ausgezeichnete und zu den wichtigsten Schriftstellerinnen ihres Landes zählende Israelin schreibt ohne erhobenen Zeigefinger. Sie scheut sich nicht, einem Vogel den Namen Obama zu geben oder das Kaninchen nach dem Begründer des politischen Zionismus zu benennen. Sie schafft den Spagat zwischen unterhaltender Belletristik und dem Schlüssellochblick in die Psyche von Mutter und Töchtern. Die studierte Soziologin und Psychologin Mira Magén mischt sich in ihre Arbeit als Autorin ganz offensichtlich ein. Zu blaue Augen lebt von diesem Mix aus Ernsthaftigkeit, Analyse und nicht alltäglicher Liebesgeschichte.
Besonders stark beschäftigte mich allerdings bereits während des Lesens die Protagonistin, Hannah Jona. Eine fast Achtzigjährige auf der Suche nach ihrer Identität als Frau. Einerseits pfeift sie auf Konventionen, zieht sich Schuhe an, auf denen sie kaum balancieren kann, betrinkt sich und flirtet mit jüngeren Männern. Dann wieder zweifelt sie, kleidet sich in grau, um beim Blick in den Spiegel zu erschrecken und kurz darauf im kanariengelben T-Shirt von Jerusalem nach Tel Aviv zu fahren. Sie zeigt Härte, als sie dem erbärmlichen Scheindichter auf die Schliche kommt. Sie schwankt in ihren Gefühlen zu den Töchtern. Ist sie eine schlechte Mutter, da es ihr nicht gelingt, eine wirklich intime Beziehung zu ihnen aufzubauen? Sie trauert um ihren lange verstorbenen Ehemann und bedauert gleichzeitig, dass sie sich in ihrem Leben nie verwirklichen konnte.
Wer ist diese Hannah Jona, die sich in die Scheindemenz flüchtet, dabei aber nicht ausschließlich die Behörden hintergehen will, sondern die Freiheit des Verrücktseins genießt, um schon im nächsten Moment ihr Tun zu hinterfragen und an ihrem Verstand zu zweifeln?
Die Zuneigung von Bruno trifft sie unverhofft. Obwohl sie dieses lange vergessene Gefühl beglückt, zweifelt sie an ihrer Anziehungskraft als Frau. Wie kann ein Mann wie Bruno, jenseits der achtzig, klein, schmächtig, von zarter Gesundheit, der in einem Zimmer im Altersheim lebt und finanziell abhängig vom Sozialamt ist, sich in sie verlieben? In sie, eine Siebenundsiebzigjährige groß gewachsene Frau, die zwar nicht reich ist, doch im Besitz eines begehrten Anwesens, deren Familie und die allgegenwärtige Pflegerin auf ihr Wohlergehen achten, die sich erlaubt auszureißen, um sich zu amüsieren. Was findet dieser alte Mann also an ihr? Ihre Haut ist faltig und schlaff, die unglaublich blauen Augen nach durchzechter Nacht stumpf und müde. Sie weiß bisweilen selbst nicht mehr, ob sie an Alzheimer erkrankt ist oder noch die Kranke spielt. Sie sieht sich durch die Augen des Geliebten, wobei sie zu dem Ergebnis kommt, er liebe sie nur, weil er nicht mehr attraktiv genug für schöne Frauen sei.
Ein erschütternder Gedanke, der die großen Selbstzweifel, das geringe Selbstwertgefühl einer Frau offenbart. Endet dieses Gefühl denn nie, verfolgt es uns Frauen vom Kindesalter bis zum Tod? Sind wir uns lebenslang unsicher bezüglich unserer Wirkung auf Männer? Ich frage mich, ist in der Realität die junge Frauengeneration heute selbstbewusster oder gehört die gnadenlos kritische Selbstbeobachtung tatsächlich für immer unauslöschlich zur weiblichen DNA?
Last modified: 28. September 2017