Ich höre zu, wenn man mir etwas erzählt. Doch ich sollte lernen, mich zu verweigern.
Meine Ohren sind absolutes Mittelmaß. Sie sind weder besonders klein, noch auffallend groß, sie stehen nicht ab und liegen auch nicht extrem eng am Kopf an. Es handelt sich um ein herkömmliches Paar Ohren. Und doch scheinen sie das Erste zu sein, was man wahrnimmt, wenn man mich ansieht. Wie sonst kann es passieren, dass meine Gesprächspartner mir stundenlang von ihrem Leben berichten, sich ausführlich über erlebte Ärgernisse ihres Alltags auslassen oder mir intime Details aus ihrer Beziehung erzählen, die mich weder etwas angehen noch interessieren. Ich lasse die Menschen reden, gebe ihnen Raum. Aber offenbar biete ich ihnen einen zu großen Raum. Während ich ihnen etwas von meiner Zeit schenke, nehmen sie sich ohne zu zögern und ohne den geringsten Skrupel reichlich Nachschlag. Ihr Leben, das aktuelle wie vergangene, steht im Mittelpunkt der Begegnung. Fragen nach meinen Sorgen, Erlebnissen und Alltagswidrigkeiten: Fehlanzeige. Solange ich meine Ohren offenhalte, redet mein Gegenüber einfach weiter. Gelegentliches Nachfragen oder zustimmendes Kopfnicken meinerseits genügen, um den Redefluss keinen Atemzug lang versiegen zu lassen.
Vor ein paar Tagen saß ich in meinem Stammcafé zum Schreiben. Das Notebook stand vor mir auf dem Tisch, ich schaute auf den Bildschirm. Am Tisch nebenan saß eine ältere Dame. Kaum hatte sie meine Aufmerksamkeit mittels Bitte um den Zuckerstreuer gewonnen, erfuhr ich ihre Geschichte. Zwei kurze Sätze freundlichen Small Talks genügten ihr, um mich zu belagern. Ich erfuhr einen Abriss über ihr Leben, ihre Umsiedlung von Großbritannien nach Berlin, ihren Beruf als Lehrerin, die ausführliche Beschreibung ihrer Liebe zu Deutschland, ihre inzwischen tiefe Abneigung gegen das englische Essen sowie ihre detaillierte Meinung zum Brexit.
Nach fast eineinhalb Stunden zog sie sich die Lippen nach, bezahlte für zwei Cappuccinos und einen Scone und verabschiedete sich mit netten Worten, nachdem sie mir noch schnell mitteilte, wie sie den restlichen Nachmittag zu verbringen gedenke. Ich schaute auf die Uhr, klappte das Notebook zu und verließ ebenfalls das Café. Meine Laune war im Keller. Ich hatte keinen Satz geschrieben und stattdessen wieder einmal meine Zeit geopfert, um mir einen Monolog anzuhören. Fragen oder Einwürfe nahm die Frau als Aufforderung, immer weiter auszuschweifen. Mich oder meine offensichtlich wartende Arbeit nahm sie nicht zur Kenntnis.
Was war passiert? Ich hatte keine Grenze gesetzt, das ist mir bewusst. Offenbar hoffte ich darauf, meine Gesprächspartnerin würde meine zwischenzeitlichen Versuche wahrnehmen, mich wieder auf den Bildschirm zu konzentrieren. Stattdessen wechselte sie ohne Pause von einem – ihrer – Themen zum nächsten.
Eine zufällige Begegnung, bei der eine ältere Frau sich mitteilen wollte und dafür eine willige Zuhörerin gefunden hatte. Was ist schon dabei? Mein Problem ist ein generelles: Ich war an eine Zeiträuberin geraten und mir macht die Erkenntnis zu schaffen, wie häufig ich solche Situationen zulasse. Ich höre ganze Abende die Geschichten über die miesen Kollegen einer Freundin, der Nachbar informiert mich bei jedem zufälligen Treffen im Hausflur über seine letzten Restaurantbesuche, wobei er stets „die beste Pizza, Pasta, Fischgerichte oder Steaks der Stadt“ gespeist hat. Ich habe es bisher nie geschafft, seine langweiligen Berichte abzuwürgen und mit einem freundlichen „noch einen schönen Abend für Sie“ weiterzugehen. Und meine Freundin geht nach jedem Treffen erleichtert nach Hause, weil sie wieder einmal ihren Frust abladen konnte.
Ihr extremes Desinteresse an anderen Menschen zeigt mir seit Jahren eine Bekannte. Ich kenne ihr Leben bis ins allerkleinste Detail, von ihrer Geburt bis heute, weiß wirklich alles über ihre Umzüge, Ausbildungen, die Kinder, die Scheidung und bin Adressatin für die ausführlichen Klagen über ihren jetzigen Ehemann. Während eines mehrstündigen Treffens berichtete sie wie üblich von sich, sich und nochmals von sich und ihren mit nichts und niemandem zu vergleichenden Problemen in ihrer Beziehung, mit Nachbarn, Ärzten, dem Finanzamt – also mit der gesamten Welt. Nach dem Zustand eines im Sterben liegenden nahen Familienmitglieds von uns erkundigte sie sich zwei Tage später via SMS: „Ich hatte ganz vergessen zu fragen, wie es deinem Verwandten geht“, schrieb sie. Seit dem Tag ist sie aus der Kategorie „Freundin“ in die Spalte „lose Bekanntschaft“ gerutscht.
Zum Glück gibt es in meinem Umfeld Menschen, mit denen ich Dialoge führen kann, die zuhören und sich für andere tatsächlich interessieren. Andererseits bin ich nicht mehr bereit, Narzissten eine Bühne zu bieten, ihre Selbstverliebtheit hinzunehmen und zu beobachten, wie wichtig sie sich nehmen.
Kürzlich las ich eine simple Wahrheit, die ich ab sofort beherzigen werde:
„Du kannst die Menschen um dich herum nicht verändern, aber du kannst verändern, welche Menschen um dich herum sind.“
https://www.palverlag.de/lebenshilfe-abc/narzissmus.html
Last modified: 8. September 2019