Es ist November. Auf unserem Teil der Erde sind die täglichen Sonnenstunden rarer geworden. Nicht selten schaue ich morgens beim ersten Blick aus dem Fenster auf milchig graue Nebelschwaden. Das ist normal im Herbst, und im Grunde ist es auch schön, vier unterschiedliche Jahreszeiten zu erleben. Wenn da nur nicht das kleine Monsterchen wäre, das mich mit zuverlässiger Regelmäßigkeit während der dunklen Jahreszeit besucht.
Früh am Morgen, wenn es noch dunkel ist und noch kein Sonnenstrahl durchs Fenster dringt, wartet es bereits auf mich, wenn ich aufwache. Mir ist bewusst, dass es viele Menschen gibt, die diesen Herbst-Winterblues kennen. Zu wissen, ich bin mit diesem Gefühl nicht allein, hilft allerdings kaum meine morgendlichen negativen Gedanken, die eigentliche Identität des Monsters, zu verscheuchen. Lange habe ich nach einem Weg gesucht, wie ich mit dem Besuch des Monsterchens umgehen kann, und ihm dabei so wenig Macht als möglich über mich zu geben.
Vorab gesagt: Der Name „Monsterchen“ ist mein ganz persönlicher Begriff dafür. Er ist nicht besonders originell, doch ich wollte den schwermütigen Gedanken einen Namen geben, sie personifizieren. Monsterchen scheint immer vor mir wach zu sein, es ist offenbar überzeugter Frühaufsteher. Es wartet schon am Kopfende des Bettes, lauert, bis ich endlich ansprechbar bin. Dann will es meine ungeteilte Aufmerksamkeit, um mitzuteilen, dass alles, was ich mir für diesen Tag vorgenommen habe, Mist ist. Am besten gar nicht erst ans Aufstehen denken. Zu dunkel draußen, zu kalt, zu unschön.
Also rede ich mit ihm. Zuerst nannte ich es Monster. Dann merkte ich jedoch, dass ich es damit eher noch gegen mich aufbringe. Also ist es jetzt das verniedlichte Monsterchen, was netter, fast nach einem Freund klingt. Freundschaftliche Gefühle hege ich zwar keineswegs, aber die Namensgebung passt zu meinem Motto „Umarme deinen Feind“.
Es ist wichtig, gleich nach dem wach werden mit Monsterchen in den Dialog zu treten. Ihm zu signalisieren, dass ich mir seine Bedenken, manchmal richtig üble Tiraden, erst einmal anhöre. Die klingen in etwa so: „Wieso willst du heute an den Schreibtisch? Bleib am besten gleich liegen, das wird heute sowieso nix mit dem Schreiben, keine Ideen in Sicht! Trink keinen Kaffee, und kauf dir vor allem nicht schon wieder Kuchen. Ich sage nur: Zuckerschock! Die angefangene Geschichte ist Mist, und heute wirst du auch nicht mehr zustande bringen. Denk bloß nicht, wenn du ins Café gehst, ändert das was an deiner Einfallslosigkeit. Außerdem bist du dann auch noch abgelenkt vom Schreiben. Aber du nimmst das Schreiben doch überhaupt nicht ernst. Eine weitere Veröffentlichung? Vergiss es, du hast keine Ideen, die irgendjemanden interessieren! Glaubst du wirklich, du bist Künstlerin, eine Autorin? Dass du schon Jahrzehnte damit Geld verdienst ist purer Zufall“, kichert Monsterchen. In diesen Momenten würde ich es doch viel lieber „Monster“ nennen.
So oder ähnlich, nicht selten noch negativer und verletzender, spricht es mit mir. Und wenn ich diese Tiraden abwehre oder freundlich darauf hinweise, dies alles schon unzählige Male gehört zu haben, ist Monsterchen wenig beeindruckt. Still ist es auf keinen Fall. Es ändert dann den Kurs, schwenkt von mir auf andere Menschen, Familie, Bekannte oder Freunde und deren Probleme oder auf meine Probleme mit diesen Menschen. Jetzt muss ich aufpassen, wachsam sein, denn ich gehe ihm hier unbedachter auf den Leim als bei seinen Frontalangriffen auf meine frühmorgens ausgesprochen sensible Autorinnenseele.
1:0 für mich
Mit inzwischen geübten freundlichen, aber bestimmten Worten lehne ich ab, auf seinen Kugelhagel aus Worten und Häme einzugehen. Schließlich erzählt es nichts Neues, wärmt wieder und wieder alte Geschichten auf, die ich von allen Seiten beleuchtet und meine Erkenntnisse daraus gezogen habe. Monsterchen ist sich nicht zu schade, mich sogar mit meinen inneren Dialogen mit meinem längst verstorbenen Vater zu konfrontieren, bei denen ich selbstverständlich weniger gut wegkomme, als sie sich tatsächlich abspielten.
Dass es damit gleich am Morgen, noch vor dem Aufstehen auf mich einstürmt, ist die pure Bosheit. Da ich jedoch keine Lust auf diese Auseinandersetzungen habe, weiß ich inzwischen, wie ich es besänftigen kann. Meine Stimme ist betont nett, meine Worte wähle ich jedoch mit Nachdruck (manchmal in Gedanken, manchmal tatsächlich laut in den Raum gesprochen). Sehr gut ruhigstellen lässt sich Monsterchen mittels Mantras wie „Das ist ein längst abgehaktes Thema“, „Diese Themen sind alle bereits bis zum Ende diskutiert“ oder „Es gibt zu diesem Thema nichts mehr Neues zu sagen“. Dann grummelt es vermutlich vor sich hin und nimmt sich für den nächsten Morgen vor, stärkere Geschütze aufzufahren. Egal, jetzt ist wenigstens Ruhe. Ich gebe ihm noch ein paar versöhnliche Worte mit auf den Weg wie „Warne mich bitte vor echten Gefahren und verhalte dich ansonsten unauffällig. Ich weiß zu schätzen, dass es dich gibt, aber eine Hauptrolle in meinem Leben besetzt du nicht. Du hast die Wahl, Monsterchen: mein Freund zu sein oder ein Gegner, den ich entschlossen bekämpfen werde.“
So geht das während der dunklen Monate oft morgens minutenlang hin und her. Meine „Charmeoffensive“ führt aber inzwischen letztlich zum Ziel: Ich drehe mich um, strecke und dehne die noch müden Bein- und Armmuskeln. Zum Schluss noch drei tapfere Sets Crunches für die Bauchmuskulatur und dann schwinge ich die Beine aus dem Bett. Zum Glück kann ich nicht sehen, wie Monsterchen den Kopf schüttelt und fies grinst. Morgen früh wird es wieder pünktlich zur Stelle sein.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Vorsichtig, sehr vorsichtig!
Der Lippenstift: „Beige Mirage“ von Lancôme
Last modified: 2. November 2016