Die Sollte-Schreiberin

von Schreiben

Das Morgenmonster hat einen Zwilling.

Ernest Hemingway verließ sein Bett, sobald die Sonne aufging, so las ich kürzlich. Er nutzte die frühen Morgenstunden, um an seinem Manuskript zu arbeiten, im Stehen an einem Regal übrigens und mit schier fanatischem Eifer. Spätestens zur Mittagszeit hatte er sein geplantes Tagespensum erledigt. Danach widmete er sich anderen Aufgaben, stand dann am nächsten Morgen wieder mit den ersten Sonnenstrahlen auf und machte sich an die Arbeit. Ob er diesen Rhythmus auch während seiner Jahre in Kuba beibehielt, als er Der alte Mann und das Meer verfasste, das Werk, das ihm den Pulitzer und schließlich den Nobelpreis einbringen sollte, ist nicht überliefert. Es ist zu vermuten, da es schwer vollstellbar ist, dass er zu einer späteren Tageszeit im Lärm seiner stets überfüllten Stammbar `El Floridita´, in der er lange Abende und Nächte verbrachte, die Ruhe und Muße zum ernsthaften Schreiben fand.
Doch ich schweife ab. Was mich tatsächlich beschäftigt seit ich von den Schreibgewohnheiten des berühmten Schriftstellers las, ist die Konsequenz, mit der er jeden Tag zur gleichen Zeit mit seiner Arbeit begann. Da er angeblich trotz reichlichen Alkoholkonsums nie unter einem morgendlichen Kater litt, fiel es ihm leicht, das Bett so zeitig zu verlassen. Weder beim literarischen Talent, noch bei der Menge Daiquiri würde ich einem Vergleich mit Ernest Hemingway standhalten. Was aber wirklich schmerzt, ist die Tatsache, dass ich morgens gern in aller Frühe am Schreibtisch sitzen möchte, es jedoch partout nicht zu schaffen imstande bin. Schuld daran ist das Morgenmonster, von dem ich auf Mein blauer Lippenstift schon öfter erzählt habe. Dieser fiese Gnom sitzt am Bettende und erklärt mir es sei gänzlich sinnlos, zu schreiben, da ich kein Talent besitze, wer ich denn zu sein glaube. Er fragt mich, weshalb ich das Bett überhaupt verlassen wolle, wo ich doch sowieso nichts zustande bringen werde. Da seine ungebetenen „Erkenntnisse“ allerdings niemals zu einem befriedigenden Erfolg führen, will sagen, ich dennoch aufstehe, um den Tag zu beginnen, und irgendwann später das Notebook wider besseren Rat aufklappe, bringt das Morgenmonster seit einiger Zeit seinen Bruder mit. Seit ich mir vornahm, zeitiger mit dem Schreiben zu beginnen, und dieses Vorhaben auch umsetzte, wurde Gnom Nummer 1 wohl unruhig. Anscheinend fürchtete er, seinen Einfluss zu verlieren. Also brachte er seinen Zwillingsbruder mit. Jetzt sitzen sie nebeneinander, wobei Nummer 2 mir vorgaukelt, er wolle mich anfeuern, indem er mich auffordert, umgehend das gemütlich warme Bett zu verlassen, wenn ich eine Autorin sein wolle. Ich solle mich sputen, statt dem Morgenkonzert der Vögel zu lauschen. Später mit der Arbeit zu beginnen sei keine Option, da ansonsten auch dieser Tag vergeudet sei. Vor allem aber solle ich endlich Disziplin zeigen, wenn ich keine Loserin sein wolle. Währenddessen grinst Nummer 1 bösartig, runzelt die Stirn und widerspricht seinem Bruder.
Mag sein, mein Bekenntnis klingt selbstmitleidig. Gegen diesen Scheindisput der beiden bösen Zwerge, der nur dazu dient, mich zu verunsichern, fühle ich mich machtlos. Die Monster Twins beglückwünschen sich zu ihrem Erfolg mit einem High five.
https://www.tagblatt.ch/leben/besser-leben-tagebuch-31-tage-um-5-uhr-aufstehen-experiment-geschafft-aber-ld.2253950

Last modified: 27. Mai 2022

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