Wer über Langeweile klagt, hat nicht gelernt, seine Kreativität zu wecken.
Kürzlich erzählte der Journalist und Autor Ulrich Wickert in einer Talkshow von dem wunderbaren Gefühl der Langeweile, das er genieße, sobald er die Arbeit an einem Buch beendet habe. Eine Schauspielerin in der Runde warf ein, sie bestehe darauf, dass ihre Kinder das Smartphone zeitweise zur Seite legen, sie verordne ihnen geradezu, sich zu langweilen.
Über die Wiederentdeckung der Langeweile wird viel diskutiert in unserer Zeit der Reizüberflutung, des zum Teil hausgemachten Stresses, den wir uns selbst in unserer Freizeit schaffen. Die Talkshowgäste sprachen zwar beide von Langeweile, bezeichneten mit diesem Begriff jedoch unterschiedliche Gefühle. Laut Duden ist Langeweile ein „als unangenehm, lästig empfundenes Gefühl des Nicht-ausgefüllt-Seins, der Eintönigkeit, Ödheit, das aus Mangel an Abwechslung, Anregung, Unterhaltung, an interessanter, reizvoller Beschäftigung entsteht“.
Dieses Gefühl müssen Kinder allerdings erst erlernen. Es ist hinlänglich bekannt, dass Langeweile zu den wichtigsten Triebfedern der kindlichen Entwicklung gehört. Eltern sind nicht die Entertainer ihrer Kinder. Ist ihnen langweilig, entwickeln sie selbst Ideen zur Beschäftigung. Wer als Kind nicht lernt, Langeweile kreativ umzusetzen, dürfte sich als Erwachsener schwertun auch nur eine kurze Phase ohne Ablenkung auszuhalten, so banal oder monoton diese Ablenkung sein mag.
Norbert Bolz formuliert in einem Essay für den Hörfunksender SWR2: „Schon rein neurologisch gilt: Langeweile ist der Feind des Gehirns. Deshalb brauchen wir das Spiel und den Sport, die Drogen und die Musik. Die Grunddynamik des Lebens in der Wohlstandsgesellschaft kann man deshalb als Flucht vor der Langeweile beschreiben. Wer sich langweilt, ist wunschlos unglücklich. Das ist offenbar der Preis, den wir alle für die Sicherheit und Bequemlichkeit des modernen Lebens zu zahlen haben. Der Komfortismus ist ein Hamsterrad, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt: Langeweile – Erregungslust – Stress – Komfort – Langeweile.“
Ulrich Wickert langweilt sich also nicht. Wenn er eines seiner inzwischen dreißig Bücher zu Ende geschrieben hat, nimmt er sich eine Auszeit. In diesen Phasen des Nichtstuns entstehe die Idee zu seinem nächsten Buchprojekt. Es ist folglich keineswegs Langeweile im Sinne von „ich weiß nichts mir anzufangen“, sondern bewusst zelebrierter Müßiggang, den sich der Autor nach abgeschlossener Arbeit gönnt. Der Duden definiert die Muße als „freie Zeit und (innere) Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht“. Gut möglich, Herr Wickert war zu bescheiden, den Begriff Muße zu verwenden, der ausschließlich Künstlern vorbehalten zu sein scheint. Seine Langeweile ist allerdings genau das: Eine Phase ohne Pflichten, während der man entspannt den Kopf „leert“ um sich danach wieder Neuem zuwenden zu können.
Ich tue nichts. Ich langweile mich. Diese Sätze irritieren. Müßiggang hat nämlich in unserer Gesellschaft ein ausgesprochen schlechtes Image. „Seltsam, wenn man bedenkt, dass jeder Mensch am liebsten das tun würde, was er will – und nicht das, was er muss. …Die Zweckautonomie ist in der Tat eine große Stärke des Müßiggangs. Es ist die große Doktrin unserer Zeit, dass alles Handeln einem mittelbaren Ziel untergeordnet sein muss“, erklärt Dominik Kaufmann in seinem Artikel „Die größten Irrtümer zum Müßiggang“ im Müßiggang Magazin (http://muessiggang-magazin.de/irrtuemer-zum-muessiggang/).
Lassen sich die Gedanken partout nicht weglocken von Alltagsthemen wie der Arbeit oder persönlichen Problemen, raten Yogis, sich die Sinnfrage zu stellen: Wer bin ich? Woher komme ich? Was ist der Sinn des Lebens? Was sind meine Aufgaben im Leben? Diese Fragen stelle ich mir zwar nicht, der Muße muss ich aber bewusst Platz in meinem Alltag einräumen. Ich neige dazu, nachdem ich eine Geschichte zu Ende geschrieben habe, sofort zu einem Buch zu greifen. Lesezeit ist jedoch keine Mußezeit im eigentlichen Sinn. Zumindest bei mir, da die Lektüre meine Gedanken auf Touren bringt. Ich stelle mir Sinnfragen – zur Lektüre, nicht zu meinem Leben. Will mein Gedankenkarussell nicht stillstehen, lese ich ein Kapitel eines Buches (z.B. Was ich vom Leben gelernt habe, von Oprah Winfrey, S. Fischer Verlage), das mir hilft, eine Sinnfrage zu meinem Leben zu formulieren.
Mußestunden sind essenziell. Und sie sind zeitunabhängig. Ich brauche dafür keinen Urlaub, nicht einmal einen freien Tag. Musik holt mich aus dem Alltagstrott heraus, z.B. die CD Landed in Brooklyn der Brüder Julian & Roman Wasserfuhr. Eine etwas ausgiebigere Pause im Sommer auf der Terrasse, während der kühlen Jahreszeit in meinem Lesesessel im Wohnzimmer reicht, um in den Langeweilemodus (eigentlich: Mußemodus) zu schalten. Aus diesem Modus entsteht im Idealfall ein beschwingtes „Alles-ist-machbar-Gefühl“.
Zugegeben, Zeitnischen findet man schwerlich, solange eine dringende Arbeit wartet. Den unaufgeräumten Schreibtisch, das vorwurfsvoll auf Bearbeitung wartende Steuerformular oder die fast blinden Fensterscheiben auch nur kurz zu vergessen schaffen vermutlich nur echte Lebenskünstler. Zu denen gehöre ich bedauerlicherweise nicht. Mein schlechtes Gewissen trickse ich aus, indem ich mich ins Café verziehe oder einen Zwischenstopp im Weinlokal einlege. Das Notebook bleibt zu Hause, ebenso Bücher oder Zeitungen. Während ich das Treiben um mich herum beobachte, genieße ich den Müßiggang, zelebriere meine selbst gewählte Phase der Langeweile.
Die Zeit der Muße, die zumindest teilweise „Leerung der Festplatte“, kann notwendig werden, um Kraft zu schöpfen für die kleinen und großen Herausforderungen des alltäglichen Lebens. Für mich ist sie aber auch notwendige Übung, mein Gedankenkarussell zwar nicht zum Stillstand zu bringen, aber das Tempo zu verlangsamen.
Zum Glück lernte ich im Kindesalter, Langeweile zu ertragen. Das bedeutet, ich muss heute nicht ständig mit dem Handy in der Hand leben, um mich abzulenken. Wenn ihre Kinder murren, nachdem das Smartphone ausgeschaltet ist, antwortet die Schauspielerin klug vorausschauend: „Dann langweilst du dich eben.“
Meine aktuelle Schreibstimmung: Wie buchstabiert man Langeweile?
Der Lippenstift: „Crescendo“ von Giorgio Armani
Last modified: 21. September 2017