Gestern fiel mir beim Aufräumen meine Arbeits-Lust-Liste in die Hände, über die ich auf Mein blauer Lippenstift geschrieben hatte. Diese Liste muss unbedingt um eine weitere unerfüllte Sehnsucht ergänzt werden.
Der Sommer naht. Ich spüre das, weil meine Schreiblaune sich verändert. Andere Menschen fahren während der ersten richtig warmen Abende an den Badesee oder sitzen im Biergarten, sobald ihr Arbeitstag überstanden ist.
Wer den ganzen Tag drinnen verbringen muss, tauscht den Businessdress gegen luftige Freizeitklamotten und genießt den Abend im Freien.
Während der Sommermonate fühle ich mich privilegiert. Autoren können sowieso überall arbeiten, im Sommer kommen aber noch viele schöne Orte hinzu, an denen man schreiben und sich dabei die Sonne auf die Nase scheinen lasssen kann. Auf einer Parkbank, auf einer Decke im Gras, auf einer Luftmatratze, in einer Hollywoodschaukel auf der Terrasse, im Gartencafé, an einem Brunnen, auf historischen Plätzen (es muss ja nicht die mit Touristen gepflasterte Piazza San Marco sein), auf einem weich gepolsterten Liegestuhl auf dem Balkon, auf einem Klappstuhl im Hinterhof …
An keinem dieser Plätze wird man mich in den kommenden Wochen finden, zumindest nicht schreibend. Das erledige ich zu Hause bei weit geöffneten Balkontüren und wehenden Gardinen. Draußen wäre ich dann eigentlich auch gerne. Eigentlich sage ich, weil meine Gefühle seit ein paar Jahren seltsame Wege gehen, sobald endlich schweißtreibende Temperaturen herrschen: Ich wünsche mir ein Gartenhaus.
Ein Tisch, ein Stuhl und ein kleines Board für Unterlagen und eine Blumenvase sollten reinpassen, mehr nicht. Drei der vier Wände sollten aus Glas bestehen, aus Fenstern, die vom Boden bis zur Decke meiner winzigen Sommerschreibresidenz reichen. Wenn selbst für einen Tisch nicht genügend Raum sein würde, stellte ich einen Sessel samt Beistelltisch hinein. Das Notebook balancierte ich auf den Knien.
Ein unbescheidener Traum für eine ohnehin Verwöhnte, die es sich aussuchen kann, wann und wo sie arbeitet? Finde ich keineswegs, denn ich lebe längst nicht jeden Punkt meiner Lust-Liste, gebe nicht jedem Tagtraum nach, trenne machbare von unrealistischen Ideen. Meine Fantasie will ich aber niemals in die Schranken verweisen, meine Gedanken haben immer freien Lauf, meine Schreibideen kennen nur sehr wenige Grenzen. Selbst wenn das kleine Gartenhaus aus Glas vermutlich für immer eine Sehnsucht bleiben mag, genieße ich bewusst das Privileg, Sehnsüchten gedanklich nachhängen und darüber schreiben zu können.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Leicht und ein bisschen melancholisch wie ein warmer Sommerabend.
Der Lippenstift: „Addicted to Rose“ von Givenchy
Last modified: 27. Mai 2017