Gutes Jahr, kurzer Rock. Schlechtes Jahr, roter Lippenstift.

von Lifestyle

Wie es um den aktuellen Zustand der Welt steht, verraten angeblich zwei Indikatoren: die Rocklänge der Frauen und die Menge der Lippenstifte, die sie kaufen.

Auf Mein blauer Lippenstift schreibe ich wenig über die „Titelgeber“, obwohl ich mich bereits in der Einleitung zur Website als Lipstick Junkie oute. Produkthitlisten stehen nicht mehr in meinem Fokus, und über neue Inhaltsstoffe, Rezepturen oder Farbtrends schrieb ich als Beautyjournalistin viele Jahre lang. Dennoch bleibt das Thema ebenso Teil meiner Arbeit als Autorin, wie es ganz selbstverständlich zu meinem Leben gehört. Ich liebe Lippenstifte nach wie vor, verwende sie täglich, halte Ausschau nach neuen Farben und Marken, freue mich, wenn ich wieder einen „Fang“ in den Einkaufskorb lege. Das ist meine private Lust an der Sache. Als Autorin lasse ich mir dagegen Raum, beschäftige mich wenig mit den oben genannten Fakten. Mein Blickwinkel ist ein anderer geworden. Ich denke mir Geschichten aus, lasse meiner Fantasie freien Lauf. Und ich achte auf Frauen, die Lippenstift tragen. Beobachte, welche Farbe sie wählen, spekuliere über den Stellenwert, den das Beautyaccessoire Nummer eins für seine Trägerin haben mag. Für wen trägt sie den Schmollmund in leuchtendem Pink? Lässt ihr Beruf als Bankerin oder Juristin keine kräftige Farbe zu oder bevorzugt sie einfach Nudetöne? Weshalb wählte sie heute dieses strenge Bordeaux, das ihre Lippen schmal und ihren Gesichtsausdruck negativ wirken lässt? Wieso wagt sie kein klares Rot, das ihren rassigen Typ optimal zur Geltung bringen würde? Typisch Heide Kuhn-Winkler, der Lipstick Junkie: Bei Frauen schaue ich zuerst auf den Mund, bevor mein Blick ihr Outfit auch nur streift. Nicht selten möchte ich die Trägerin einer tollen Farbe nach Name oder Nummer und Marke ihres Lippenstiftes fragen. Ich tue es nicht, sollte mich als kommunikativer Mensch jedoch künftig dazu überwinden. Wer weiß, welch interessantes Gespräch sich ergibt? Außerdem freut sich jede Frau über ein Kompliment. Das allein spricht schon dafür, sie anzusprechen.

Konjunkturseismograph Frau
Als die USA nach dem 11. September 2001 eine Rezession zu verkraften hatten, stellte Leonard Lauder die umstrittene Hypothese vom Konjunkturindikator Lippenstift auf https://de.wikipedia.org/wiki/Lippenstift-Index. Ähnlich wie der Ökonom George W. Taylor bereits 1926 die Konsumentenstimmung an einem „weichen“ Faktor wie der Rocklänge der Frauen beobachtete https://de.wikipedia.org/wiki/Rocksaumtheorie, stellte der Sohn der legendären Estée Lauder und heutiger Emeritusvorsitzender des Board of Directors des Kosmetikkonzerns den Lippenstiftumsatz in Bezug zur Wirtschaftslage. Während die Rocksaumtheorie davon ausgeht, der Rock der Frau werde mit zunehmender Konjunktur kürzer, beruht der Lipstick Index auf der Annahme, dass Frauen in konjunkturell schlechteren Zeiten Lippenstifte als Ersatz für nicht erschwingliche Luxusartikel kaufen. Lippenstift statt Cartieruhr? Kein Geld für teure Kleidung, Schuhe, Handtaschen, stattdessen eine größere Anzahl Lippenstifte im Badezimmer? „Der kleine Luxus“, wie man in der Beautybranche auch den Kauf von Markenparfums bezeichnet, träfe folglich auch auf die Lippenschminke zu.

Die tatsächliche Bedeutung der Hypothese zu beurteilen überlasse ich den Ökonomen, die sie als nicht relevant einstuften. Wobei ich mich frage, ob man lediglich dem Kosmetikproduzenten misstraute oder uns Frauen lieber nicht die Macht eines Seismographen zugestehen wollte? Angenommen, Mister Lauder läge mit seiner Beobachtung entgegen der Expertenmeinung richtig, ergeben sich mit Blick auf Deutschland im Wahljahr 2017 einige Fragen:

Wie viele Lippenstifte kaufen Frauen in Deutschland pro Jahr? Dazu sei bemerkt: Da es sich bei diesem Blogtext nicht um einen journalistischen, sauber recherchierten Artikel handelt, frage ich nicht beim Statistischen Bundesamt nach, sondern belasse es bei der Frage. Träfe Leonard Lauders These zu, dürften die Verkaufszahlen seit Jahren stagnieren, da die Konjunktur in Deutschland stabil bleibt.

Geht man von der derzeit gesunden Wirtschaftslage aus, welche Aussage verbindet die Trägerin dann überhaupt noch mit dem Lippenstift? Pflege, Lifestyle, tägliche Gewohnheit, Sexappeal?

Angeblich schminkten sich Frauen während der Kriegsjahre, um sich selbst wenigstens einen minimalen Anschein eines normalen Lebens zu vermitteln. Welche Rolle sollte ein Lipstick Index im dritten Jahrtausend also überhaupt noch in einem Land spielen, das seit mehr als siebzig Jahren in Frieden lebt?

Kann der Rocklänge einer Frau oder der Kauffrequenz von Lippenstiften eine nennenswerte Aussagekraft zugeschrieben werden in einer Zeit, da Frauen politische und gesellschaftliche Macht fokussieren und keineswegs in die alten Frauenrollen sprich zu Haus und Herd zurückkehren werden?

Schiebe ich meine Fragen beiseite, wechsle den Blickwinkel und schaue mir den Kasus Lippenstift aus meiner subjektiven Sicht an, komme ich zu dem Schluss, dass wir Frauen hier einmal tatsächlich im Vorteil sind. Wenn ich über geringe finanzielle Mittel verfüge, verhelfen mir Lippenstifte dazu gepflegt, frisch und damit erfolgreich auszusehen. Für wenig Geld fühle ich mich gut, denn ich trage die angesagten Farben der Mode. Mein Outfit kann total schlicht sein, wenn das Accessoire Lipstick die Hauptrolle übernimmt. Wer behauptet, Frauen tragen heute noch Schminke allein zu dem Zweck Männern zu gefallen, irrt gewaltig. Okay, zugegeben, Barbietussen wird es wohl ewig geben. Jede, wie sie mag.

Angenommen ein Mann hat wenig Geld, was bleibt ihm als kleiner Luxus zur Aufmunterung (außer metrosexuelle Typen natürlich, die greifen ebenfalls zum Lippenstift)? Zigaretten: verfärben die Zähne und teeren die Lunge. Kaugummi kauen: sieht einfach blöde aus. Ein Bierchen: schmeckt, aber man sollte besser nicht zum Rettungsring um die Hüften neigen.
Bleibt festzustellen: Dumm gelaufen, Jungs. Advantage Frau.

 

Meine aktuelle Schreibstimmung: Wann habe ich mir eigentlich zuletzt einen Lippenstift gekauft?
Der Lippenstift: „Cherry Cape“ von Guerlain        HKW_Website_ Icon Artikelende

 

Last modified: 27. Juli 2017

    × schließen