Das Jahr 2017 ist vier Tage alt. Höchste Zeit für die erste Binsenweisheit:
Schönheit liegt im Auge des Betrachters
Was ist Schönheit? Nichts weiter als ein abstrakter und individuell definierter Begriff. Daran dachte ich, als ich auf den kahlen und seit Tagen mit Eis bedeckten Weidenstrauch in meinem Garten sah. Als schön empfinde ich ihn normalerweise im Frühling, wenn er voll streichelweicher Kätzchen hängt. Ich mag ihn auch, wenn er während der Sommermonate üppig grünt. Doch jetzt ist er nackt. Seine Äste strecken sich wie lange dürre drohende Hexenfinger in den grauen Himmel. Im Winter ist die Weide keine Augenweide, fällt mir bei diesem Anblick ein wenig originelles Wortspiel ein.
Doch worauf will ich eigentlich hinaus? Auf Schönheit, auf alles Schöne, was dabei hilft, die kargen Winterwochen zu überstehen. „Überstehen“ nenne ich es, weil nach Weihnachten und Silvester, den Wochen mit Lichtern, Glitzer, feiern und fröhlich sein die Zeit ansteht, in der der Blues lauert. Unter einer mehr oder weniger ausgeprägten Winterdepression leiden die meisten Menschen zwar erst im Februar, wenn die dunkle Jahreszeit schon ein paar Monate andauert und nicht nur dünnhäutige Gemüter sich nach Licht sehnen. Traurige Stimmung schleicht sich aber auch ein, wenn die Wohnung nach dem 6. Januar, dem Dreikönigstag, ihre festliche Dekoration verliert, wenn auf der Terrasse und im Garten die mit Lichterketten geschmückten kleinen Tannenbäume nicht mehr in der frühen Dunkelheit leuchten. Nach dem Dreikönigsfest verschwindet der Schmuck in Kartons. Zurück bleibt der kalte, dunkle, neblige Winter.
Da ich ins neue Jahr prinzipiell ohne gute Vorsätze gehe und auch keine Projekte starte, um mich abzulenken, hole ich die ersten Frühlingsboten ins Haus, sobald die Weihnachtskugeln im Keller verstaut sind. Wenn ich mir im Blumenladen aber die gelben Tulpen anschaue, die mir zwei Wochen nach Winterbeginn Frühling vorgaukeln sollen, wird mir bewusst, dass dieses Bild nicht stimmt. Diese Blumen gehören zu einem Luxusdenken, das uns Erdbeeren im Winter kaufen lässt, das Frühling zu Jahresbeginn in die Vase zaubern oder mittels Raumduft die Karibik ins Wohnzimmer holen soll, während draußen nasskalter Januar herrscht.
Spontan beschließe ich also doch ein Vorhaben für 2017: Ich will versuchen, bewusst den Winter wahrzunehmen und dabei das Schöne an dieser Jahreszeit zu sehen, auch wenn ich keine Gelegenheit habe mich in die malerische Kulisse verschneiter Bergzüge samt Hüttenzauber mit Norwegerpullover und prasselndem Kaminfeuer zurückzuziehen.
Die Aufgabe an meine Fantasie lautet: Sehe das Schöne im Hässlichen.
Greenery ist die Trendfarbe 2017, so fanden die Trendscouts der US-Firma Pantone heraus. Grünzeug, um es in Deutsch zu sagen, ein Ton zwischen Apfelgrün und Avocado, ist es, was uns künftig gefallen soll. Greenery gefällt uns eigentlich längst, denn Pantone erfindet die Trendfarben nicht, sondern ermittelt sie. Sie ist also schon en vogue, es fehlte nur die offizielle Bestätigung. Könnte dieses fröhliche Grün die Lösung sein? Ich richte meine Wohnung, Kleidung und Accessoires auf die Trendfarbe aus. Dann bin ich hip und gleichzeitig von Frühlings-Sommer-Flair umgeben. Könnte so sein, wenn ich nicht allergisch reagieren würde, sobald man mir eine Farbe diktieren will, die nicht zu meinen Favoriten gehört.
Bluestime. Ich suche die Schönheit des Winters, um dem Blues keine Chance zu geben, begebe mich auf die Suche nach Wärme. Der Anblick von Schönem vermittelt ein Gefühl von Wärme. Im Grunde ist es ganz einfach, ich muss nur die Augen offen halten, an den Grautönen der Jahreszeit vorbei, durch sie hindurchschauen. Das fällt unerwartet schwer, ich bin ungeübt. Ich probiere es anders, sehe die Zeichen des Winters pur, seine fast brutale Rauheit.
Was sehe ich?
Grau in allen Schattierungen. Milchiges Grau, Betongrau, Schiefergrau, Staubgrau.
Verhaltenes, spärliches Licht. Spät erhellte Tage, früh einsetzende Dunkelheit. Künstliche Beleuchtung.
Kahle Bäume. Graubraune Erde. Graugrünes Gras.
Schmutzgraue Schneereste.
Ich schaue noch einmal hin, nehme mir Zeit. Was sehe ich?
Den Lichtbogen der Straßenlaterne auf dem Gehweg.
Das reflektierende Weiß von frisch gefallenem Schnee.
Mit einer Eisschicht bedeckte Pfützen; jede ein winzig kleiner funkelnder See.
Von glitzerndem Eis überzogene Sträucher.
Pflanzen, die im Winter Früchte tragen, z.B. der rote Winterapfel.
Wolkenspiele. Weiße und in den unterschiedlichsten Grautönen gefärbte Wolken ziehen mal träge, mal in rasanter Geschwindigkeit vorüber.
Einen blauen Himmel, einen leuchtend blauen, klaren, hohen Winterhimmel.
Und außerdem …
… sehe ich auch während der Winterwochen die Sonne. Nicht häufig, doch sie zeigt sich, schiebt ihre Strahlen durch die Wolkendecke, teilt sie, erhellt die Welt und die vom Blues geplagte Seele. Allein, man muss nur aufmerksam sein für den Moment, da er sich zeigt, dieser seltene Gast.
Meine erste selbst gestellte Aufgabe 2017 bescherte mir im Übrigen neue Vorbilder: Ich beobachtete die Sperlinge im Garten. Diese unscheinbaren, braungrau gefiederten Vögel schwatzen, sind ständig in Bewegung, trotzen dem harten Winterklima. Im Gegensatz zu mir scheinen die munteren Kerlchen mühelos das Schöne im Hässlichen zu erkennen.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Entspannt. Das soll 2017 auch so bleiben.
Der Lippenstift: „Rose Pamplemousse“ von Sisley
Last modified: 4. Januar 2017