Das Verständnis schwindet; die Sehnsucht wächst.
Unser Alltag außerhalb der eigenen Wohnung, das ist von der Politik so gewollt, ist auf das absolute Mindestmaß geschrumpft. Inzwischen wurden selbst die Bibliotheken geschlossen, wo man zwar schon lange nicht mehr sitzen und lesen oder recherchieren, aber wenigstens Bücher ausleihen konnte. Im Kanzleramt mag man es sich kaum vorstellen können, doch während dieses harten Lockdowns werden Eltern, die ihren Kindern mehr Bildung ermöglichen möchten als dies das Fernsehprogramm oder Internet je bieten könnten, die ihre Kinder ganz altmodisch auch mit Büchern aufwachsen lassen wollen, dazu gezwungen, die Lektüre zu kaufen statt kostenlos auszuleihen.
Der aufkommenden Langeweile vorzubeugen wird immer schwieriger, auch für uns Erwachsene. Da ich nicht täglich Toilettenpapier kaufen muss, das Joggen vor Jahren zugunsten von Yoga aufgab und Spaziergänge in einer Stadt, die den Namen kaum mehr verdient, unter grauem Winterhimmel stinklangweilig finde, sitze ich zu Hause und hadere. „Es geht dir doch gut.“ „Sei glücklich, andere haben es wesentlich schwerer als du.“ „Nun reiß’ dich mal zusammen, Heide.“ Solche und ähnliche an meine mangelnde Moral appellierende Ansagen vertrage ich momentan extrem schwer. Zumindest in diesen Tagen, während der Lockdown zum Dauerzustand zu mutieren scheint und die Politiker mal leiser, mal lauter von weiteren Verschärfungen sprechen.
Die Bibliotheken sind also ebenfalls geschlossen und damit Orte, von denen nicht bekannt ist, dass man dort jemals lauthals gesungen hätte, sondern im Gegenteil, an dem es üblich ist, leise zu sprechen, um niemanden bei der Lektüre zu stören. Die Gründe für die Entscheidung, selbst diese Kultur- und Bildungsinstitutionen stillzulegen, will ich nicht hören, auch wenn ich mich somit gebärde wie ein bockiges Kleinkind. Ich verzichte auf Erklärungen, die mir suggerieren sollen, selbst beim Ausleihen von ein paar Büchern mit Abstand, Maske im Gesicht und zuvor gewaschenen Händen gefährde ich und bin gefährdet. Inzwischen ist mir klar geworden, dass wir längst auch kein Toilettenpapier mehr in einem Laden kaufen könnten, wenn sich die Regierenden trauen würden, uns zu erklären, man müsse Lebensmittler und Drogerien schließen, da wir dort trotz Abstand, Maske im Gesicht und zuvor gewaschenen Händen andere gefährden und selbst gefährdet sind.
Mein Ärger über mangelhafte Kommunikation (auch nach mehr als einem Jahr Pandemie!), dürftige Erklärungsversuche (die sich gerne auch mal widersprechen) und verbalem Wahlkampfschaulaufen aller Parteien wird nur übertroffen von meiner beständig wachsenden Sehnsucht nach… Ja, wonach eigentlich? Was war noch mal normal in der Welt und in meinem kleinen Ausschnitt davon vor der Pandemie? Ein Restaurantbesuch? Im Café schreiben? Einen Film im Kino statt auf dem Laptop sehen oder einem Theaterstück tatsächlich im Theater folgen anstatt im eigenen Wohnzimmer?
Wir haben gelernt, uns zu bescheiden. Also formuliere ich die bescheidene, aber nichtsdestotrotz heftige Sehnsucht nach dem Besuch der Bibliothek. Nach diesem Besuch würde ich nach Hause gehen. Wohin auch sonst in einer Millionenmetropole, die keine Sperrstunde kennt?
Last modified: 4. Februar 2021