Lamentieren ist à la mode.
Oder wie sonst ist es zu erklären, dass ich als Schreibstimmung am Ende meines letzten Blogs „Think positive!“ geschrieben hatte, mich aber häufig beim Gegenteil ertappe: beim Jammern.
Zum Beispiel beim kurzen Dialog im Fahrstuhl mit einem Nachbarn: Er: Heute Morgen hatte es minus acht Grad, gefühlt waren es minus 15 Grad. Ich: Kaum auszuhalten, dieser Winter. Er: Wir haben aber schon schlimmere erlebt in Berlin. Ich: Stimmt, wir sind scheinbar verwöhnt. Trotzdem hoffe ich inständig, dass wir diese miese Kälte bald hinter uns haben werden. Die Aufzugtür schwingt auf, ich ziehe den Reißverschluss meines Parkas bis zum Anschlag hoch, stülpe die Wollhandschuhe über und trete laut bibbernd vor die Haustür. Was bin ich doch ein Weichei, denke ich, kann aber nicht anders als mich zwar nicht schreiend, aber doch hörbar zu beklagen. Als ob das Wetter sich davon beeindrucken lassen würde.
Positives Denken geht jedenfalls anders. Und es wird immer schlimmer. Ich habe mich beobachtet, ich mutiere zunehmend zum Jammerlappen. Ich jammere über die Kälte (Februar – Berlin – Ostwind – noch Fragen?), beschwere mich über meine Schreibblockade. Den Gipfel erreichte ich vor ein paar Tagen: Wir warteten auf den Paketdienst, der nach fünfzehn Uhr eintreffen sollte. Das war ungünstig, wir mussten zu einem Termin und würden um die angekündigte Zeit nicht zuhause sein. Kurz vor vierzehn Uhr läutete es, da stand ich bereits ausgehfertig in Mantel und Stiefeln im Flur. Mein Päckchen wurde geliefert. Doch anstatt mich darüber zu freuen, es später nicht bei irgendeinem Nachbarn abholen zu müssen, beklagte ich mich ich über den unzuverlässigen Paketdienst. Der war schließlich eine Stunde früher als erwartet gekommen. Kein Verlass mehr, auf niemanden. Mein Partner konnte es kaum fassen. Jetzt moserte ich schon rum, wenn es eigentlich Grund zum Freuen gab. Think positive funktioniert anders, wie gesagt.
Ich bedauere mich, fühle mich sensibler und verletzlicher als ich es von mir gewohnt bin und hole zum großen Bogen aus, indem ich die zunehmende soziale Kälte in der Welt beklage. Ich mutiere zum Weichei und werde mir selbst unsympathischer. Was wird als Nächstes kommen? Jammere ich über einen zu warmen/zu kalten/zu nassen/zu trockenen Frühling, den Straßenlärm, die lauten Vögel, die dreckigen Gehwege, volle Supermarktparkplätze, zu langsame Fahrstühle, zu volle Mülltonnen – und immer wieder über die zunehmende soziale Kälte in der Welt?
Scheint, es ist höchste Zeit für den Stopp. Gang raus, Schalthebel auf Slow Motion stellen. Ich sollte mir deutlich öfter zuhören, wenn ich laut spreche oder in Gedanken eine Jammerarie anstimme. Ist es ein Zeichen unserer Zeit, ungeduldig und tendenziell ärgerlich auf unsere Umgebung zu reagieren, dabei zum Hypersensibelchen zu werden und nur noch das eigene „Leid“ zu beweinen? Mein laienhafter Erklärungsversuch: Den Satz aus meiner Kindheit „Sei zufrieden“ habe ich offenbar ins Gegenteil verkehrt. Ich bin unzufrieden. Nicht ständig, allerdings wesentlich zu häufig, zu schnell und bei Anlässen, die es keinesfalls Wert sind. Hinter der Aufforderung „Sei zufrieden“ verbarg sich der Wunsch meiner Familie nach einem braven, angepassten Kind, das schließlich über nichts zu klagen hatte oder zumindest nichts zu klagen haben sollte.
Ursula Nuber beschäftigt sich in Lass die Kindheit hinter dir (dtv Verlag) mit der bisweilen ausgesprochen unglücklichen Verknüpfung von Kindheitserinnerungen und Erwachsensein. Demnach ist es sinnvoll, sich den Bedingungen der eigenen Sozialisation zu stellen. In der Rolle des braven Kindes zu verharren ist ebenso unpassend wie den kleinen Rebellen zu geben. „Sei zufrieden“ durch „Sei unzufrieden“ (nörgelig, jammernd, anklagend…) zu ersetzen sei keine Lösung, lerne ich von der Psychologin. Und es ist auch kein brauchbarer Ansatz nach dem Motto „Ich zuerst“ durch die Welt zu laufen und wenn es nicht nach Plan läuft, das eigene Schicksal zu betrauern. Diese Bauchnabelschau scheint zwar in Mode zu sein, sie ist jedoch alles andere als attraktiv. Bevor ich endgültig zu einer weinerlichen, sich selbst bemitleidenden Tante verkomme, höre ich ab sofort hin, wenn ich zu reden beginne oder mein Gedankenkarussell in den Negativmodus rutscht. Wenn der Paketmann demnächst wieder früher klingeln sollte, wäre das bestens.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Also noch mal: Think positive!
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Last modified: 6. März 2018