Miss Eitel

von Schreiben

Erinnerungen eines frustrierten Knopfes.

Es war die Hölle. Sie ließen mich in einem Karton warten, bis irgendwer entschieden hatte, wohin man mich bringen würde. Okay, ich will bei der Wahrheit bleiben. Ich hatte einen nicht gänzlich unbequemen Liegeplatz in einem geräumigen, mit weißem Seidenpapier ausgeschlagenen Karton. Und eigentlich wartete ich nicht allein. Wir waren viele. Eine ziemlich große Gruppe. Für mich allerdings unverständlich, schienen alle anderen sich klaglos in ihr Schicksal zu fügen. Aber, hallo? Wir waren und wir sind schließlich nicht irgendwer. Bei uns Grazien handelt es sich um edle Perlmuttknöpfe. Klein, besonders fein gearbeitet, zart und hübsch anzusehen. Doch vor allem: Wir sind keine billigen Nachbildungen. Oh nein, ganz im Gegenteil. Wir sind Originale, dazu auserkoren, dereinst ein Kleidungsstück zu verzieren. Ach, was sage ich: Uns hat man dazu ausersehen, einem Kleidungsstück einen Wert zu verleihen, den es ohne uns niemals erreichen würde.
Perlmuttknöpfe, dazu so hauchdünne wie wir, mit zwei winzigen Löchern in der Mitte, durch die ebenso hauchfeine Nähseide gefädelt wird, lässt man verständlicherweise auf gar keinen Fall in einem Karton auf irgendeinem verlassenen Abstellgleis eines Bahnhofs auf ihren Auftritt warten. Aus heutiger Sicht könnte ich diese unangenehme Angelegenheit durchaus als längst vergangen abtun. Aber der Schock und, auch das muss gesagt werden, der Schmerz über diese lieblose Behandlung sitzen tief in meiner zerbrechlichen Knopfseele. Zumal mein Dasein danach sich nicht wirklich verbesserte. Ich fühle mich in meiner Würde bis heute gekränkt. Nachdem das Warten also endlich ein Ende gefunden hatte, wir an unserem Zielort angelangt und in einem Glasregal eines Handarbeitsgeschäftes Platz gefunden hatten, schöpfte ich Hoffnung. Nun würde alles gut. Eine Käuferin würde kommen, um mich und ein paar andere aus der Gruppe mit nach Hause zu nehmen. Fast immer waren es Frauen, die ihre Seidenbluse oder eine Jacke aus edler Kaschmirwolle mit unserem Glanz veredelten.
Aber es kam ja alles ganz anders. Das Unheil nahm seinen Lauf, als eines Morgens ein kleines Mädchen an das Regal herantrat, in dem ich gemeinsam mit meinen Schwestern Unterkunft gefunden hatte. Ich weiß durchaus, es heißt DER Knopf. Und doch sind wir Schwestern, keine Brüder. Knopfschwestern sind wir, Perlmuttschönheiten. Das kleine Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen, deutete mit ihrem Finger auf uns und rief: „Mami, diese Knöpfe sind wunderschön. Die sollst du auf den Bären nähen.“ Ich versuchte, mich wegzuducken. Bereute auf der Stelle, mich so weit nach vorne geschoben zu haben. Doch es ging alles so schnell, ich hatte keine Chance mehr, mich weiter hinten einzureihen. Die Mutter nahm mich aus dem Regal, ließ meine Schwestern zurück und trug mich in ihrer Hand zur Kasse. Mit Entsetzen sah ich, wie sie auf dem Weg noch vor einem weiteren Regal stehen blieb, um eine Rolle Baumwollgarn auszusuchen. Ich würde also noch nicht einmal auf feine Nähseide hoffen können. Das kleine Mädchen hüpfte munter plappernd neben der Mutter her.
Nun lebe ich schon eine lange Weile allein. Wie lange genau, weiß ich nicht. Ich bin oft traurig. Selbst die seltenen Ausflüge in den Kindergarten oder zur Oma des Mädchens bringen mir keine Freude. Was wohl aus meinen Schwestern geworden ist, frage ich mich oft. Ob sie es zu Seidenblusen und auf butterweichen Kaschmir geschafft hatten? Meist sitze ich jetzt mit dem Bären auf der Kommode im Kinderzimmer und träume davon, wie es wäre, der Star einer Fashion Show in Paris zu sein.
© HKW

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Last modified: 7. März 2020

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