Darf man ein Idol infrage stellen?
Mehr als einmal erklärte ich auf Mein blauer Lippenstift eine leidenschaftliche Leserin von John Katzenbachs Thrillern zu sein. Erst kürzlich freute ich mich auf lange Lesenächte mit der deutschen Neuveröffentlichung seines 1982 erschienenen Erstlings In the Heat of the Summer (Der Reporter).
Seit 2002 bin ich Katzenbach-Fan. Damals las ich The Analyst (Der Patient) und war fasziniert von der psychologisch ausgefeilten Geschichte, in der die Spannung von der ersten bis zur letzten Seite anhielt. Inzwischen stehen sämtliche Werke des Amerikaners im Regal. Da ich selten die Zeit aufbringen kann, die seitenstarken Bücher ohne Unterbrechung zu lesen, kaufe ich die Neuerscheinungen und lege sie auf meinen SuB als besonderes Bonbon, das ich mir aufhebe für Wochenenden zu Hause, für die Ferien oder für mieses Wetter, bei dem ich keine Lust habe, vor die Tür zu gehen.
Im November werden Lesestunden aufgrund des National Novel Writing Month weitgehend ausfallen und der Bücherstapel unangetastet bleiben. Deshalb las ich in den vergangenen Wochen zur Einstimmung einige meiner Lieblingsautoren, unter anderem Die Grausamen, einen Kriminalroman, in dem der Autor erstmals zwei Ermittler auf die Spur des Verbrechers setzt.
Die Erkenntnis aus dieser Lektüre: Ich liebe John Katzenbachs nie vordergründig reißerische, sondern immer subtile Schreibe, die Geschichten mit völlig überraschenden Wendungen. Auf Ermittler mit komplexem Charakter und jeder Menge privater Probleme im Gepäck konnten seine Werke aber bislang verzichten. Ich hoffe also auf den nächsten Psychothriller, in dem mir wieder der Wahnsinn ganz normaler Mitmenschen den Schlaf rauben wird.
Seit ein paar Tagen liegt Der Reporter auf meinem Nachttisch. Dieses Buch nennt die ‚New York Times’ „John Katzenbachs legendäres Debüt“ und bezeichnet ihn als „Autor, der zugleich tough und subtil schreibt“. Mit dieser Charakterisierung bin ich einverstanden, allerdings vermag mich der Debütroman nicht zu überzeugen. Nach fünf Abenden habe ich nur knapp die Hälfte der etwas über vierhundert Seiten geschafft. Der Funke will einfach nicht überspringen. Ich bin noch immer nicht so weit in der Geschichte drin, dass ich das Buch, wie gewohnt, erst zuklappen will, wenn ich das Ende kenne.
Was ist passiert? Habe ich die Lust am Thrillerlesen verloren? Wächst man über Themen und Genres hinaus, so wie man irgendwann keine Kinderbücher und später keine Jugendliteratur mehr liest, sieht man von Harry Potter einmal ab? Ich denke, es ist wesentlich einfacher: Als ich John Katzenbach „kennenlernte“, war er bereits seit zwei Jahrzehnten aus seinem ehemaligen Beruf als Polizeireporter ausgestiegen und hatte zahlreiche Bücher veröffentlicht. Malcolm Anderson, der Protagonist seines Erstlingswerkes, trägt mutmaßlich autobiografische Züge von Polizeireporter Katzenbach und die Schreibe entspricht eher dem Genre Kriminalroman der achtziger Jahre. Das bedeutet, der Schriftsteller ließ in seinen ersten Werken sein eigenes Leben einfließen, mindestens jedoch seinen vorherigen Beruf. Als ich The Analyst las, hatte er sich längst freigeschrieben vom Zeitungsreporter. Seine Stories hielten in Atem, obgleich keine Pistolen zückenden Ermittler grausige Mordopfer entdeckten. Der Journalist hatte sich mit jedem Manuskript mehr hin zum Schriftsteller entwickelt.
Für mich als Journalistin mit literarischen Ambitionen ist das eine ebenso banale wie beruhigende und ermunternde Erkenntnis: Schreib immer weiter! Selbst wenn du heute Mist produzierst, entsteht vielleicht morgen Brauchbares und irgendwann in der Zukunft ein den Leser fesselndes Buch.
Der Reporter liegt auf dem Nachttisch. Das Lesezeichen steckt auf Seite zweihundertachtundsiebzig. Ab morgen bin ich für einen Monat in der Lesepause, siehe oben. Ich muss mich ranhalten, die restlichen einhundertneunundvierzig Seiten spätestens heute Nacht zu lesen. Das bin ich John schuldig.
Last modified: 31. Oktober 2018