Es ist so einfach, sich in eine andere Person zu verwandeln.
Bei kaum einer Tätigkeit außer der Schauspielerei darf man zumindest zeitweise in immer neue Identitäten schlüpfen. Diese große Freiheit hat man auch beim Schreiben. Während der vergangenen Wochen war es häufig meine einzige Rettung: Ich ließ meine Gedanken frei und mich in eine Figur „verpflanzen“, die sich für alles Mögliche interessierte, nur nicht für die Pandemie. Wenn der Zugang zur realen Welt geschlossen ist, bleibt die Fantasie. Sie kennt keine Ausgangssperren oder Besuchsverbote, sie ist rund um die Uhr geöffnet und schert sich weder um Abstandsregeln noch um Hygienevorschriften.
Die Fantasie ist (über-)lebenswichtig für mich als Autorin. Und sie verleiht mir Fähigkeiten, von denen ich im realen Leben nicht einmal zu träumen wage. Vom Couch Potato avanciere ich mühelos zum Fassadenkletterer, gefalle mir in der Rolle des weiblichen Pendants zu Mr Hyde oder bin ungeniert ausgeflippt, wütend und manchmal ziemlich nervig wie Daisy Duck. Ich kann fünf oder fünfzig sein, blondes Engelshaar oder coole Dreadlocks tragen, munter durchs Gras hoppeln oder im roten Cabrio am Pazifik entlangfahren.
Solange Kinos, Theater und Kleinkunstbühnen also geschlossen bleiben, finden Geschichten weiterhin in meinem Kopf statt. Einmal mehr bin ich dankbar für die Gunst der Kreativität.
http://www.nzz.ch/feuilleton/figuren-in-der-literatur-haben-sie-die-autoren-im-griff-ld.1541947
Last modified: 21. Mai 2020