Gerade las ich wieder einmal, Berlin sei für viele Menschen weltweit die Sehnsuchtsstadt.
Das brachte mich zum Nachdenken. Für mich war es vor etlichen Jahren die Stadt, in der ich meinte, meine Wurzeln gefunden zu haben. Nach unzähligen Geschäftsreisen und Hotelaufenthalten zog ich hierher. In meiner Wunschgegend fand ich schnell eine Wohnung, sogar in meinem Wunschhaus. Ein paar Jahre später verlangten es die Umstände, diese geliebte Wohnung zu kündigen und Berlin zu verlassen. Recht bald hegte ich Zweifel an dieser Entscheidung, die sich jedoch nicht rückgängig machen ließ. Schweren Herzens akzeptierte ich, weggezogen zu sein aus „meinem“ Kiez, aus „meiner“ Stadt. Wieder ein paar Jahre danach folgte der zweite Umzug, inzwischen lebe ich schon längere Zeit wieder hier. Und zweifle jetzt, es ist unfassbar, an meiner Liebe zu Berlin. Dieses Mal zwingen mich keine Umstände, die Zelte abzubrechen. Dennoch denke ich darüber nach. Natürlich ist auch die Pandemie an diesem Gefühl schuld. Stadtflucht ist ein Phänomen dieser Zeit. Nach einem Haus im Grünen mit Garten und Aussicht sehne ich mich zwar nicht im Geringsten. Dazu ist das Leben in der Stadt zu komfortabel. Berlin ist unserem Kiez auch keine der Megacitys, deren Lärm krank macht. Während ich diese Zeilen bei weit geöffneten Fenstern schreibe, zwitschern draußen Vögel, ab und an höre ich weit entfernt ein Flugzeug.
All das kenne ich auch aus meinem ehemaligen Leben in der Provinz. Weshalb fremdle ich dann mit Berlin? Es sind die immer deutlicher sichtbaren Unterschiede in der Stadt. Hier Kiezidylle, dort das völlig überteuerte, aufgemotzte Berlin-Mitte. Auch die schiere Größe dieser Metropole, die ich früher kaum wahrnahm, bereitet mir zunehmend Stress. Die großen Entfernungen, der damit verbundene Zeitaufwand.
Ein Sehnsuchtsort kann sich also ändern, die Sehnsucht gar verloren gehen. Bedeutet das, ich bin nicht mitgewachsen, habe die Veränderungen um mich herum nicht aktiv erlebt? Ich vermute, wir beide haben uns verändert, die Stadt und ich. Wir haben uns in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Klingt, als spräche ich von einer in die Jahre gekommenen Ehe. Allerdings bezweifle ich, eine Paartherapie könnte Berlin und mir helfen. Die Entscheidung muss wohl ich alleine treffen.
https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/urbanisierung-die-stadt-von-morgen/
Last modified: 13. August 2021