Die Nacht endet seit Tagen sehr früh. Ich lausche.
Noch vor fünf Uhr am Morgen bin ich wach. Ein Amselhahn will das so. Er sitzt auf dem Schornstein des Nachbarhauses und trällert seine Strophen. Viele Strophen in ebenso vielen Tonlagen. Er kommuniziert mit seinen Artgenossen. Und ganz eindeutig auch mit mir.
Es sei allmählich an der Zeit, übers Aufstehen nachzudenken, signalisiert der Amselmann. Ob ich denn den alten Spruch nicht kenne, wonach nur der frühe Vogel den Wurm fange? Der Himmel wechsle längst seine Farbe von schwarz nach grau, die ersten Menschen würden sich bereits zur Arbeit aufmachen, schiebt Herr Amsel nach, offensichtlich mit dem Ziel, mein schlechtes Gewissen zu wecken. In seinen Augen bin ich eine trödelige Langschläferin.
Seine Stimme ist eindringlich und laut. Ich bin wach, lausche seinem Gesang und denke nach: Was steht heute auf dem Tagesplan? Habe ich einen Termin außer Haus? Muss ich Unangenehmes erledigen? Oder steht der Tag zu meiner freien Verfügung und keine unaufschiebbare Hausarbeit an? In diesem Fall könnte ich viele Stunden schreiben.
Wie alle Morgenmuffel bin ich wenig erfreut über die Ruhestörung zu dieser frühen Stunde. Dennoch lasse ich mich auf den Gesang ein, will verstehen, was mir der Schornsteinbesetzer mitteilt. Auf wundersame Weise schafft er es, das Morgenmonster gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen. Es sitzt mit genervter Miene am Kopfende meines Bettes, verkneift sich allerdings jeden Kommentar. Deshalb liebe ich diesen Amselmann, der die sonst eher trüben Gedanken nach dem Aufwachen verhindert und mich mit seiner Munterkeit ansteckt. Amseln singen von Februar bis Juli rund eine Dreiviertelstunde vor Sonnenaufgang. Mein neuer Freund wird folglich noch etliche Wochen für gute Laune sorgen.
Last modified: 3. März 2019