Elegante Städterin und farblose Provinzomi: Klischee oder Realität?
Sie könne über den Tod reden, selbst wenn sie noch nicht gestorben sei, erklärte eine Freundin vor Jahren während einer Diskussion über Kindererziehung. Eine Teilnehmerin hatte ihre Meinung infrage gestellt mit dem Argument, sie sei kinderlos, womit ihr jegliche Kompetenz zu diesem Thema fehle. Wie meine Freundin damals schreibe ich heute über ein Thema, für das ich keine Kompetenz mitzubringen scheine. Ein Thema, das sonst nicht zu den Kernthemen auf Mein blauer Lippenstift gehört. Was wird die Tante in Jeans, Lederjacke und Chucks schon über Stil zu sagen haben? Auf die Reaktionen bin ich neugierig, ich sehe ihnen entspannt entgegen.
Anfang des Sommers saß ich in Berlin in einem Bistro und beobachtete am Nachbartisch ein Frauenquartett. Das Alter der vier Damen schätzte ich auf siebzig plus. Was sie sich erzählten, konnte ich nicht hören, doch ihr Styling fesselte meinen Blick. Bunt, feminin, von lässiger Selbstverständlichkeit würde ich ihre Outfits, die Kleider, Röcke, Hosen, Shirts, flachen Schuhe und Sandalen mit Absatz kurz unter der High Heel-Grenze bezeichnen. Mit dem typischen grau-schwarzen, eher derben Berliner Shabby Chic (wozu mein Lederjacken-Jeans-Auftritt punktgenau passt) konnten diese Frauen offensichtlich nichts anfangen. Ihr gesamtes Outfit, Kleider und Accessoires schienen mit Lust an Stoffen, Mustern und Farben ausgewählt. Seit dieser Begegnung achte ich an meinen zwei Lebensorten in der Großstadt und in der Provinz bewusst auf ältere Frauen, beobachte was sie tragen und wie sie sich in ihrer Kleidung bewegen. Ich tue dies, das sei betont, als Laie in Sachen Mode und Stil, erlaube mir aber dennoch meine Meinung zu äußern. Danke für den Kontersatz meiner Freundin…
Einmal auf der Suche, sah ich sie überall, die interessant gestylten wie die bis zur Unsichtbarkeit dezent gekleideten Frauen vorgerückten Alters.
In den vergangenen Monaten erhärtete sich mein Verdacht, am Klischee der beige-braunen Landmaus und der farbenfreudigen Städterin ist tatsächlich mehr als ein Körnchen Wahrheit. Wie gesagt, spreche ich von Frauen über siebzig. Und, auch dies sei betont, Faktoren wie körperliche Gebrechen oder Altersarmut lasse ich außen vor. Es geht hier um subjektive Beobachtungen, ich verfasse keine soziologische Studie. Deshalb erlaube ich mir die Aussage: Ältere Städterinnen kleiden sich lustvoller als Omis in der Provinz.
Soziologen können diesen Unterschied vermutlich detailliert erklären. Was veranlasst Frauen im 21. Jahrhundert noch immer in ihren späten Jahren, beigefarbene Gesundheitsschuhe zu tragen, ihre Farbpalette auf Grau- und Brauntöne zu beschränken, ihre Weiblichkeit offenkundig aufzugeben? Ist es die Neugier oder der Neid der Nachbarin? Auf dem Land steht man erwiesenermaßen unter stärkerer Beobachtung als in der Stadt. Bevor sie sich also als verrückte Alte ansehen lassen muss, versteckt sie sich lieber hinter Mauscheltönen und Antifarben? Trägt flache Latschen statt bunter Sneaker? Scheuen alte Damen auf dem Land die Kritik der Gesellschaft? Fehlt ihnen die Lebenslust oder zumindest die Freude, ihr Leben so lange als möglich durch eine bunte Brille zu sehen? Oder gibt es für sie einfach keinen Grund, sich etwas farbenfroher zu stylen für ihr provinzielles Umfeld? Bietet die Stadt eine Bühne auf der frau sich gerne bewegt, während die Provinz ein Leben hinter dem Vorhang bedeutet? Herausputzen fürs Café in der City, aber unsichtbar beim Spaziergang durch ländliche Wiesen? Ist weibliche Bescheidenheit jenseits der siebzig beige?
Mein Raster zu diesem Thema mag ein grobes sein. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die ewige Jugend in Stretchjeans, Statement-Shirt und Pailletten von Kopf bis Schuh ist meines Erachtens genauso stillos wie das ewige Spiel in Grau. Und ob frau dem Diktat der Modemagazine für die Generation Silberfuchs folgen sollte, was sie möglicherweise genauso langweilig, weil uniform wirken lässt, stelle ich infrage.
Selbstbewusst, eigensinnig, fantasievoll und sichtbar mit Spaß an der Inszenierung kleideten sich die älteren Städterinnen, die ich in diesem Sommer bewunderte. Der amerikanische Fotograf und Autor Ari Seth Cohen (http://www.advanced.style/) widmet sich seit Jahren dem Stil reifer Damen. Seine Bücher Advanced Style (erschienen bei powerHouse Books) zeigen seine weltweit gesammelten wunderschönen Stylings. Fotos von Elke Kuhn in New York City, Jenny Kee in Melbourne, der 98-jährigen Yogalehrerin Tao Porchon-Lynch oder Britt in Berlin sind Beispiele von Frauen, die besonders geschmackvoll, nicht besonders jung aussehen möchten. Sie eint der spielerische Umgang mit ihrer Kleidung, die nie wie ein Korsett, sondern wie ein Ort zum Wohlfühlen wirkt. Ari Seth Cohen erkannte die Schönheit des Altes offenbar schon vor geraumer Zeit.
So möchte ich altern, wenn ich dereinst die Jeans und Lederjacke an den Haken hängen und die Chucks ganz hinten im Schrank zur letzten Ruhe betten werde. Vermutlich wird aus mir auch danach kein Paradiesvogel wie die Stilikone Iris Apfel werden. Aber ich will das Selbstbewusstsein aufbringen, als bunt und fröhlich wahrgenommen zu werden, statt in der beige-grauen Versenkung zu verschwinden. Ein Langzeitprojekt.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Kann sein, ich verstehe nix von Stil. Aber vom Schreiben.
Der Lippenstift: „Rose Violine“ von Chanel
Last modified: 14. Juni 2019