Meine Zeit zum Lesen ist rar. Nicht zu lesen ist jedoch absolut keine Option.
Achtung, Suchtgefahr! Im 18.Jahrhundert wurde der Begriff der „Lesesucht“ geprägt. Und natürlich litten unter dieser „Krankheit“ ausschließlich Frauen. Es handelte sich um ein geschlechtsspezifisches Übel, wenn privilegierte Damen, die über Zeit zum Lesen und Geld für Literatur verfügten, ihr Buch nicht aus der Hand legen konnten, bevor sie mit der Lektüre am Ende angelangt waren. Und dann besorgten sie sich auch schon das nächste Lesefutter. Die Angst vor gebildeten Frauen war groß. In manchen Männerrunden kursiert sie auch heute noch.
Was immer man im Übermaß konsumiert, kann zur Sucht führen, so man über Suchtpotenzial verfügt. Vom Kaffee über harte Drogen, von Arbeit bis zur Sitcom und so ziemlich alles andere, was das Leben ausmacht, kann den Menschen süchtig machen. Auch das Lesen, was sich heute allerdings eher in Form von Internetabhängigkeit äußert. Wobei sich die Symptome aller Abhängigkeitsformen ähneln: Der Mensch vernachlässigt seine sozialen Kontakte, zieht sich komplett zurück, lebt ausschließlich für sein Suchtmittel.
Meine „Lesesucht“ ist jedoch in Wahrheit lediglich eine liebevoll gehegte Leidenschaft, die an dem Tag begann, als ich während der Grundschule zum ersten Mal eine Bibliothek betrat. Nicht zu lesen ist hart für mich, aber bisweilen bleibt einfach keine Zeit dafür. Besonders schlimm ist es im NaNoWriMo. Wenn ich das Schreibpensum auch nur annähernd schaffen will, muss ich aufs Lesen verzichten. Erst wenn der November um ist, darf ich mich wieder aus meinen Bücherstapeln bedienen. Und schon stehe ich vor einem Dilemma: Wenn ich beginne zu lesen lege ich die Lektüre nur äußerst widerwillig zur Seite. Nach wenigen Seiten bin ich normalerweise in die Handlung eingestiegen und will sie nicht verlassen, bis ich das Ende kenne. Krimis darf ich deshalb ausschließlich im Urlaub oder an wirklich freien Wochenenden lesen. Für alle anderen Bücher (außer Fachliteratur) gilt: Je komplexer die Handlung, umso schwieriger ist es das Buch zuzuklappen. Es ist schade, aus einer Geschichte aussteigen zu müssen, vor allem wenn so bald keine weitere Zeitlücke zum Lesen in Sicht ist.
Die Lösung heißt Häppchenmethode. Statt mich einem kalten Entzug auszusetzen, lese ich Kurzgeschichten. Unterwegs und an Tagen mit wenigen oder kurzen Zeitfenstern für Lektüre greife ich zum Beispiel
zu den New York Storys von Lily Brett (New York, Zu sehen und Immer noch New York, alle Suhrkamp Verlag). Lilys Sicht auf das Leben und die Stadt ist manchmal amüsant, manchmal auch exzentrisch, etwa im Kapitel „Geschenke“: „Neulich hat mir eine Freundin pinkfarbene Bettlaken geschenkt. Sie leuchteten so grell, dass sie fast neonfarben wirkten. Wenn sie noch eine Spur greller wären, müsste man mit Sonnenbrille ins Bett gehen. …“) Ihre Neigung zur Übertreibung ist brillant, die Short Storys garantieren Lesevergnügen in schmalen Zeitfenstern.
zur Kurzgeschichtensammlung Große Sprünge von Judy Budnitz (Insel Verlag). Die Autorin lässt alltägliche Begegnungen einen oft surrealen Verlauf und ein unerwartetes Ende nehmen. „Das Hundert-Pfund-Baby“, „Durchschnittsbürger“ oder „Was geschah“ schaffen es, den Leser ein paar Dutzend Seiten lang schockiert ob der schieren Bosheit, des Zynismus und des zumindest bisweilen versöhnlichen Ausgangs zu fesseln.
zu wahren Geschichten über das Unbewusste des britischen Autors Stephen Grosz (Die Frau, die nicht lieben wollte, S.Fischer Verlag). „Was ich hier schreibe, ist kein magisches Geschehen. Es ist Teil unseres alltäglichen Lebens“, erklärt Grosz. Der Psychoanalytiker beschreibt wahre Ereignisse aus seiner täglichen Arbeit, bei der es darum geht, zu verstehen und verstanden zu werden. „Ich will mich ändern, aber nicht, wenn das Veränderung bedeutet“, zitiert der Analytiker einen Patienten. Hier beginnt seine Arbeit: Veränderung zuzulassen, auch wenn das Verlust bedeutet. Eine Situation, vor der die meisten von uns schon häufig im Leben standen.
zu den Erzählungen Von Katzen und Männern (Nina de Gramont, Aufbau Verlag). Durch die Geschichten pirschen die unterschiedlichsten Katzenarten. Jede ist auf ihre Art an einem Geheimnis zwischen einem Mann und Frau beteiligt. Die Hauptfiguren sind junge Frauen, die vor einer Zäsur ihres Lebens stehen, die gegen Ängste kämpfen müssen, sich nach Liebe sehnen, zweifeln, ob dieser Partner der richtige ist… Die Lösung ihrer Probleme ist undenkbar ohne Katzen, die sich mal kratzbürstig gebärden und ein anderes Mal samtpfotig einschmeicheln.
Die Häppchenmethode birgt für mich klare Vorteile gegenüber Romanen. Die abgeschlossenen Storys lassen sich leicht konsumieren, da die Handlung überschaubar, die Beziehung zu den Figuren oder dem Protagonisten aufgrund der kurzen Begegnung oberflächlich bleibt. Das Ende ist schnell bekannt, was mich den Buchdeckel zufrieden schließen lässt. Nähere ich mich dagegen den letzten Seiten eines Romans, mit dem ich viele Stunden verbracht habe, verschlungenen Handlungen und komplexen Charakteren gefolgt bin, fällt mir der Ausstieg aus der Geschichte ungemein schwer. Dann will ich bei meinen Figuren bleiben, die längst zu Freunden geworden, manchmal zu meinem Alter Ego avanciert sind. Küchenpsychologen werden sich jetzt vermutlich die Frage stellen, ob ich an einer Nicht-Loslassen-Können-Sucht leide. Die ist natürlich ebenfalls typisch weiblich.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Wenn dieser Text beendet sein wird, bleibt mir eine halbe Stunde. Könnte für zwei Short Storys reichen.
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Last modified: 7. Dezember 2017