Am Ende sind wir auf uns alleine gestellt.
Sie lerne sich gerade selbst kennen, hatte eine Blogger-Kollegin geschrieben. Seit Wochen herrscht Quarantäne in Chicago, einem der Hotspots der Coronaepidemie in den USA, wo sie allein in ihrer Wohnung in der neunzehnten Etage eines Hochhauses lebt. Der Blick aus den Fenstern auf den Lake Michigan weckte zuerst sämtliche Emotionen in ihr. Mal fühlte sie sich eingesperrt und wütend, dann wieder mutlos und einsam, um im nächsten Moment voller Zorn die Politiker und „deren Egotrips“ zu verdammen. Doch das sei nun vorbei, ließ sie vor ein paar Tagen wissen. Sie lebe jetzt ruhiger, nachdem sie sich „zum ersten Mal selbst kennengelernt“ habe.
In zwei grundlegenden Punkten mögen wir uns unterscheiden: Ich lebe nicht allein und neige glücklicherweise bisher nicht zu Extremen wie maßloser Wut oder tiefer Verzweiflung. Dennoch weiß ich ganz genau, wovon meine Kollegin spricht. Auch mir fällt es inzwischen zunehmend schwer, die sich teils widersprechenden Aussagen von Politikern, vor allem aber die wie immer mangelhafte Kommunikationsfähigkeit und wenig empathische Rhetorik unserer Langzeitkanzlerin zu ertragen. Ich beobachte meine Gefühle und Reaktionen auf Nachrichten, Interviews, Statements und stelle fest, dass man aufmunternde Worte vergeblich sucht. Backrezepte, Bastelanleitungen und Turnübungen fürs Wohnzimmer reichen einfach nicht aus, um Menschen eine so lange Phase über in positiver Grundstimmung zu halten.
Die von Matthias Horx prognostizierte Zukunft („System reset. Cool down! Musik auf den Balkonen! So geht Zukunft“.) scheint in nicht bezifferbarer Ferne zu liegen, wie deutsche Politiker in ihren bisweilen erschreckend realitätsfernen Aussagen stets aufs Neue betonen. Es verwundert folglich wenig, wenn sich die Menschen ihre individuelle Meinung aus der Flut an Informationen, Meinungen, Schätzungen und manchmal unverhohlenen Drohungen bilden. Man vertraut uns nicht, behandelt uns stattdessen wie unmündige Kinder. Diesen Kindern verdanken diese Herrschaften ihre Ämter. Wir haben sie gewählt, das scheinen sie zu vergessen. Es steht ihnen folglich keineswegs zu, sich wie Pädagogen vor eine schwer zu disziplinierende Klasse zu stellen, unter Androhung von Strafe Hausaufgaben anzuordnen und sich kritische Fragen zu verbitten. Ich bin kein Kind der DDR und akzeptiere nicht, so behandelt zu werden. In einem demokratischen Staat muss die Politik den Bürgern auf Augenhöhe begegnen, gerade in einer Ausnahmesituation, wie wir sie aktuell erleben.
Mag sein, meine Meinung polarisiert. Natürlich können Politiker in diesen Tagen nur auf Sicht navigieren, sind allenfalls in der Lage vorsichtige Prognosen zu formulieren. Aufmunternde Worte und ja, auch positive Zukunftsaussichten dürfen wir aber von ihnen erwarten. Diffuse Aussagen wie „das Virus wird uns noch eine lange Zeit begleiten“ oder „wir müssen unser Leben umstellen“ können sie sich schenken. Die verunsichern, statt Vertrauen zu bilden. Fakt ist, wie offen und vertrauenswürdig man mit uns in dieser Zeit kommuniziert, wird die Ergebnisse künftiger Wahlen wesentlich beeinflussen.
Last modified: 2. Mai 2020