„Roxy. Heute muss es Roxy sein“, dachte Gwen. Sie blickte auf den randvollen weißen Korb, der auf dem Tisch in ihrem Bad stand. In diesem Korb, der mehr als einen halben Meter Durchmesser maß, bewahrte sie ihre Schätze auf: ihre Lippenstifte.
Sie war eine leidenschaftliche Lippenstiftverwenderin. Die Sammelleidenschaft hatte sie von ihrem Vater geerbt, einem passionierten Pfeifenraucher. Gwen hortete Lippenstifte. Beinahe jede Farbe, nahezu jede Nuance war in dem flachen Korb vertreten. Sämtliche Marken, die sie in Kaufhäusern, Parfümerien und Drogerien zu Hause oder auf Reisen fand, standen Seite an Seite, Hülse an Hülse, bereit zum Einsatz. Da sie ihre Lieblinge nach Marken ordnete und nun gezielt bei den Lippenstiften von Bloodhound suchte, fand sie die Farbe „Roxy“ schnell. Sie zog die Hülse aus dem Korb, nahm den Deckel herunter, drehte den cremigen Stift ein kleines Stück heraus und sah ihn an. „Ja, du bist heute genau der Richtige, um es mit den Herren aufzunehmen“, sagte sie laut zu der glänzenden fuchsiafarbenen Lippenstiftwurst.
Gwen arbeitete bei der Finanzbehörde. Genauer gesagt war sie Inspektorin beim Finanzamt ihrer Heimatstadt. Sie mochte diesen Job, liebte den Umgang mit Zahlenkolonnen, blätterte gerne durch Formularpapiere, interessierte sich für alles, was mit Steuern zu tun hatte. Ihre Leidenschaft für Zahlen war genauso groß wie ihre Begeisterung für Lippenstifte. Sie ging gerne ins Büro, saß in ihrem kleinen Raum mit Blick auf die Hauptstraße. Anders als die meisten Kolleginnen kleidete sie sich jeden Morgen mit Bedacht für einen Tag in „ihrer“ Behörde. Sie hatte diesen Beruf nicht bewusst gewählt, sondern nach dem College nicht so recht gewusst, was sie tun wollte. Da sie sich schon immer für Zahlen und Aufstellungen begeisterte, bewarb sie sich spontan beim Internal Revenue Service IRS, dem Finanzamt der USA. Nun arbeitete sie schon einige Jahre beim Taxpayer Assistance Center als Tax Inspector, was sie als ihren Traumjob bezeichnete, auch wenn ihre Freunde und selbst die Familie, ihre Eltern und Geschwister noch immer mit einem ungläubigen Lächeln reagierten und sie „Miss Tax Inspector“ nannten, wenn sie von ihrem Alltag im Büro erzählte.
Die junge Finanzbeamtin stand an diesem Mittwochmorgen in ihrem Bad und überlegte: „Der blaue Hosenanzug tut es heute, dazu die cremefarbene Bluse und meine nachtblauen Sneaker. Die Haare binde ich besser zurück, ich bin gestern Abend nicht mehr dazu gekommen, sie zu waschen. Sie sehen aber noch sehr passabel aus für den Besuchertag.“ Dienstag, Mittwoch und Donnerstag waren die Tage, an denen Steuerzahler zur Beratung ins Büro kamen. Zur Beratung oder zu „der Gelegenheit zum Rummeckern an unseren Steuergesetzen“, wie Gwen und ihre Kollegen diese Wochentage nannten, an denen die Klienten Gesprächstermine mit ihrem zuständigen Tax Inspector vereinbaren konnten.
Da Gwen die Liste der heutigen Besucher kannte, wusste sie, ihr stand ein schwieriger Tag bevor. Es geschah zwar immer seltener, dass Leute einen Termin telefonisch vereinbarten. Die meisten buchten auf der Internetplattform der Behörde, suchten sich Tag und Zeit online aus. Jetzt nahte allerdings der jährliche Abgabetermin der Steuererklärung, was bedeutete, das Telefon stand kaum still. Die Menschen riefen an, um Fragen vor ihrem persönlichen Erscheinen bei der Finanzbehörde zu klären, um Aufschub zu bitten oder ihrem Ärger Luft zu machen ob der schieren Tatsache, Steuern zahlen zu müssen.
Ihr heutiger Terminplan bot Zündstoff, soviel war klar. Sieben Klienten hatten sich angemeldet, zwei Frauen, fünf Männer. Doch während die beiden Frauen die Beratungszeit online gebucht hatten, entschieden sich die Männer allesamt dafür, zunächst telefonisch ihr Anliegen zu erörtern. „Angekündigtes Unheil“, erinnerte sich Gwen an die Telefonate. Mit zwei Klienten kam sie schnell zu einem Konsens. Sie würden ihre Unterlagen mitbringen, um Fragen zu klären, bevor sie ihre Steuererklärung einreichten. Drei Gespräche liefen allerdings fast aus dem Ruder. Diese drei Termine würden ihr den Tag ruinieren, da war sie sich sicher. Ein Anrufer hatte sie sogar als „raffgierige Wegelagerin“ beschimpft, die ihm noch den letzten Cent nehmen wolle. Man könnte vermuten, diese drei Klienten hätten sich abgestimmt, hätten sich verabredet, um ihr einen Tag voller Ärger und Stress zu bescheren. Natürlich gab es immer wieder unerfreuliche Besprechungen mit Steuerzahlern, ironische Bemerkungen, Stammtischparolen wie „Sie persönlich können zwar nichts dafür, aber eines kann ich ihnen versichern: Diese Partei, die uns Bürger nur abzockt, wähle ich niemals wieder“. Doch gleich drei davon verhießen nichts Gutes.
Gwen wusste also, was sie im Büro erwartete. Deshalb würde sie die Waffe einsetzen, die sich als zuverlässige Männerbezwingerin erwiesen hatte: Roxy von Bloodhound. Sie sah sich die blaue Lippenstifthülse an. „Du bist effektvoller als eine Pumpgun. Und heute müssen wir es gleich mit drei Typen aufnehmen.“ Eigentlich gab es keinen Grund für sie, sich Sorgen zu machen. Anfang dreißig, mittelgroß, brünett und schlank galt sie als attraktiv. Als Finanzbeamtin hatte sie zwar auf ein seriöses, will sagen eher unauffälliges Outfit und Styling zu achten. Eine optische Extravaganz leistete Gwen sich allerdings mittels ihrer Lippenstiftsammlung. Ihre Kolleginnen trugen einen Hauch kaum wahrnehmbaren Gloss. Wenn sie denn überhaupt die Lippen schminkten, dann in Tönen wie Rosenholz, Teerose, Pfirsich, Karamell, Nude oder Sand. Diese Farben befanden sich auch in Gwens Korb im Badezimmer. Doch sie waren in Gesellschaft von satten Rottönen, frechem Pink, tieflila Pflaume, dunkler Schokolade – und von Fuchsia. Roxy war der Lippenstift in Fuchsia, einem unbestimmten Ton von hellem Rot verbunden mit mitteldunklem Lila. Fuchsia, benannt nach den Blüten der Fuchsie, eine Mischung aus Rot und Blau, wie sie nur die Natur hervorbringen konnte.
Nach dem Kauf gehörte Roxy wie alle anderen Lippenstifte zur Sammlung. Er avancierte jedoch unerwartet zum Star der Truppe. Gwen fuhr wie viele Berufstätige morgens aus dem Vorort, in dem sie wohnte, mit dem Zug zur Behörde in die Stadt und abends zurück nach draußen. In der überfüllten Bahn hielt sie öfter vergeblich nach einem Sitzplatz Ausschau. Doch nachdem ihr an unterschiedlichen Tagen von jungen wie älteren Männern freundlich lächelnd ein Platz angeboten worden war, bemerkte sie eine erstaunliche Tatsache: An jedem dieser seltenen Tage, an denen man einen Sitzplatz für sie räumte, hatte sie Roxy getragen. An ihre Kleidung erinnerte sie sich nicht, auch nicht an Schuhe oder Frisur. Aber an den fuchsiafarbenen Lippenstift. Also stellte sie ihn mehrmals auf die Probe. Und tatsächlich: ihr wurde ein Platz angeboten oder, wenn sie ohnehin saß, wurde sie von sonst morgen- oder abendmüden Gesichtern angelächelt. Seitdem war Roxy nicht mehr irgendein Mitglied der Sammlung. Dieser Lippenstift fungierte als Geheimwaffe.
Frisur und Make-up waren rasch erledigt. Concealer, Puder, etwas Rouge und Mascara, mehr war nicht nötig. Zum Schluss kam das Wichtigste: das Schminken der Lippen. Um den Lippenstift zur Geltung zu bringen, legte Gwen größten Wert auf ihre perfekt stehenden, weißen, glänzenden Zähne. Zweimal pro Jahr wurden sie in der Zahnarztpraxis gereinigt. Ihr tägliches Mundpflegeritual ließ sie nicht ein einziges Mal ausfallen, etwa weil sie zu müde dafür gewesen wäre. Selbst wenn sie spät in der Nacht vom Feiern nach Hause kam, putzte sie ihre Zähne ausgiebig und reinigte die Zwischenräume mit Zahnseide.
Das Licht im Bad leuchtete ihren Mund perfekt aus, die Voraussetzung für ein ebenso perfektes Lippen Make-up. Gwen tupfte etwas Concealer auf Ober- und Unterlippe, verteilte ihn mit sanftem Fingerdruck. Dann stäubte sie wenig farblosen Puder darüber und legte ein Kleenex über den Mund, das den überschüssigen Puder aufsaugte. Der erste und wichtigste Schritt war damit getan; der Lippenstift würde viele Stunden halten. Jetzt kam die 7-Schritte-Zeichenphase: Gwen setzte den gespitzten, farblich zu Roxy passenden Konturenstift in der Mitte der Unterlippe an, malte erst eine Linie in der Mitte, danach zum linken und schließlich zum rechten Mundwinkel. Als nächstes zeichnete sie das „V“ der Oberlippe, um zuletzt von diesem „V“ oder auch „Oberlippenherz“ genannt links und rechts je eine Linie zum Mundwinkel zu ziehen. Sie war zufrieden mit dem Ergebnis; die Lippen wirkten harmonisch. Nun fehlte nur noch die Farbe. Sie setzte den Lippenstift auf und malte die Lippen innerhalb der Konturen entlang sauber aus. Noch einmal drückte sie kurz das Kleenex auf, um überflüssige Crememasse aufzunehmen. Fertig! „Danke, liebe Marke Bloodhound, für meine Geheimwaffe Roxy“, schmunzelte sie laut dem Spiegel entgegen.
Am Mittwochabend stand Gwen wieder vor dem Spiegel im Bad, müde und bereit für die abendliche Dusche. Sie lächelte, hielt Roxy in der Hand, bevor sie ihn an seinen Platz im Korb zurücksteckte. Der Besuchertag war vorüber, ihr Lippenstift in der Farbe Fuchsia hatte den Test bestanden. Bildete sie es sich also doch nicht ein. Fuchsia wirkte. Die Termine mit den drei renitenten männlichen Klienten liefen gut. Nein, sogar bestens. Die Herren behielten die Ruhe, selbst als die Finanzbeamtin sie nachdrücklich auf Fehler in ihren Steuerklärungen aufmerksam machte. Für die „Wegelagerin“ hatte sich der Typ sogar entschuldigt. Es war kaum zu glauben, doch Roxy hatte ihr heute einen enormen Dienst erwiesen.
Welche Lippenfarbe am kommenden Morgen das Rennen machen würde, war ungewiss. Diese Entscheidung überließ Gwen ihrer Stimmung. Ob sie Fuchsia Roxy künftig an Besuchertagen mit ins Büro nehmen und für alle Fälle in der Handtasche bereithalten sollte? Falls sein Einsatz wieder einmal nötig wäre? „Dann heißt es bei Terminen mit aufsässigen Herren: peng, du bist erledigt“, lachte Miss Tax Inspector.
Meine aktuelle Schreibstimmung: Bestens gewappnet.
Der Lippenstift: „Joaquin“ von Tom Ford
Last modified: 18. Januar 2017